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Archiv-Artikel

Kann man die AKP wählen?

JA

Ohne eine starke AKP sind die Demokratisierung der Türkei und ihre Annäherung an die EU nicht zu haben. Und mit ihrer Aussöhnung von Demokratie und politischem Islam kann die AKP eine Vorbildfunktion für den Nahen Osten übernehmen.

Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP, ist nicht nur eine wählbare Adresse, sie steht auch ohne Alternative da. Denn die großen oppositionellen Parteien haben weder ein Programm, noch können sie dem Land eine Zukunftsperspektive aufzeigen.

Die Regierung hingegen weist mit Recht auf die Erfolge der vergangenen fünf Jahre hin: Preisstabilität, ein stetes Wirtschaftswachstum, wie es die Türkei seit vier Jahrzehnten nicht erlebt hat, eine dynamische und immer selbstbewusster werdende Gesellschaft. Die außenpolitischen Erfolge fallen schon bescheidener aus. Das Zypern-Problem ist weiterhin ungelöst, das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist angespannt, und der EU-Beitrittsprozess stagniert.

Aber all diese Faktoren sprechen nicht gegen die AKP. Denn die Opposition hat für keines dieser Probleme eine brauchbare Strategie anzubieten. Konservative, kemalistische und nationalistische Parteien haben in den Neunzigerjahren die Türkei bis zum Bankrott heruntergewirtschaftet. Sie haben jeden außen- und innenpolitischen Konflikt zu einer fast unlösbaren Krise wachsen lassen. Man denke nur an die blutige Auseinandersetzung mit der kurdischen PKK und die Unfähigkeit des Staats, dieses Problem in einer zivilen Weise zu lösen.

In der Türkei steht nicht links oder rechts zur Wahl, sondern die Globalisierung gegenüber der Stagnation. Die nationalistischen Auswüchse der vergangenen Jahre sind Gesten der Verlierer. Und die Warnungen der Kemalisten vor einer vermeintlich drohenden Islamisierung sind nicht nur der durchsichtige Versuch zur Wahrung von Besitzständen, sondern haben inzwischen psychotische Züge angenommen.

Zwar hat auch in der Türkei die Religion eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren, doch einen Umsturz des gesellschaftlichen Systems kann niemand ernsthaft anstreben. Dafür findet sich in der Türkei keine Mehrheit – auch und gerade nicht unter den gläubigen Muslimen. Der radikale politische Islam existiert in der Türkei nach wie vor nur an den gesellschaftlichen Rändern.

Die heterogene türkische Gesellschaft und eine einwandfreie und ungehinderte Demokratie und der Rechtsstaat wären die beste Absicherung gegen diese Ränder. Doch einige Teile des Staatsapparats sehen ihre Interessen gefährdet, wenn der Weg nach Europa weiter gegangen wird und die beschlossenen oder bevorstehenden Reformen endlich in die Tat umgesetzt werden.

Der Weg nach Europa ist ohne eine starke AKP nicht zu haben. Wer sollte den Reformkurs fortsetzen, wenn nicht jene Regierung, die ihn begonnen hat? Die AKP ist die einzige Partei auf der Welt, deren Basis muslimisch und zugleich westlich orientiert ist. Diese Einzigartigkeit verleiht ihre eine globale Bedeutung. Insbesondere im Nahen Osten könnte die AKP in der Zukunft als Vorbild für eine Gegenposition zu den radikalen Kräften innerhalb der muslimischen Gesellschaften fungieren. Erdogan ist nicht Ahmadinedschad, die AKP ist nicht die Hamas, sondern eine Alternative. Sie ist der Modellversuch für eine demokratische, in den Westen integrierte muslimische Politik, die wertkonservativ ist und zugleich offen für liberale und sozialdemokratische Ideen.

Damit deckt sie in einer zersplitterten Parteienlandschaft ein erstaunlich breites Spektrum ab. Dass es eine solche Partei gibt, verdankt die Türkei sicher auch den Reformen des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Mit ihnen wurde die Rolle der Frau in der Gesellschaft gestärkt und die Idee des Individuums geboren. Die AKP wird auch immer im Hinblick auf den tatsächlich erzielten Fortschritt, also den verwirklichten Reform gemessen werden.

Der innere Widerspruch der Kemalisten aber ist, dass sie die Bedeutung des Kemalismus als Zivilisationsprojekt weniger zu begreifen scheinen als die moderaten und modernisierten Muslime von der AKP. Sie klammern sich an einen überholten Nationalismus und reaktivieren lediglich die Urängste und Psychosen der türkischen Gesellschaft. Wer immerzu von äußeren und inneren Feinde fantasiert, die nichts anderes vorhaben als den Ausverkauf nationaler Interessen, wer überall nur Separatismus und Islamisierung wittert, wird zum Feind der offenen Gesellschaft.

Die offene Gesellschaft ist aber die Grundlage, auf der sich zivilisatorischer Fortschritt entfalten kann. Militärs, die den Nationalismus aufpumpen und Gummiparagrafen, die die Gedankenfreiheit behindern, stellen keinen Fortschritt dar – selbst wenn die Gegner der AKP meinen, nur durch undemokratische Maßnahmen die Errungenschaften der Moderne sichern zu können.

Fotohinweis:ZAFER SENOCAK, 46, ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien seine Essaysammlung „Das Land hinter den Buchstaben - Deutschland und der Islam im Umbruch“.

Nein

Die AKP hat ihre Chance verspielt. Wer die Demokratie und Menschenrechte will, kann diese Partei unmöglich unterstützen.

Als ich vor neun Jahren in meine Geburtsstadt Istanbul zog, hielt ich die Republik für enorm reformbedürftig. Die kemalistische Türkei musste flexibler und ziviler werden. Und sie musste eine kritische und moderne Form finden, um sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. In der AKP sah ich eine Art „Bewegung der Entrechteten“, der man ruhig eine Chance und auch seine Stimme geben konnte. Wir Großstädter, wir „weißen Türken“, hatten lange auf diese Leute herabgeschaut. Das Kopftuch war auch eine Klassenfrage. Für Mädchen, die nicht unsere Chancen im Leben gehabt hatten, bedeutete es, wie die Soziologin Nilüfer Göle sagte, vielleicht eine Emanzipation, einen „nichtwestlichen Weg zur Moderne“.

Unter meinen linken und linksliberalen Freunden gehörte ich zu einer Minderheit, die sich nicht am Kopftuch störte. Damals protestierten Studentinnen Tag für Tag vor den Universitäten, um mit dem Kopftuch eingelassen zu werden. Ich fand ihren Ausschluss anachronistisch. Meine Freunde sagten: „Wir sind hier nicht in Europa. Dort sind sie eine Minderheit, hier können sie zur Mehrheit zu werden. Vorsicht!“ Ich entgegnete: „Ihr könnt nicht mit zweierlei Maß messen. Und wenn es wirklich gefährlich wird, müssen wir uns eben mit ihnen streiten!“

Jetzt ist die Zeit zum Streiten gekommen. Die AKP hat fast fünf Jahre allein regiert und ihre Chance verspielt. Sie hinterlässt Vetternwirtschaft, eine stagnierende Wirtschaft ohne nennenswerte Produktion und, angefangen mit der Kurdenfrage, einen Haufen ungelöster Probleme. Und sie hinterlässt ein Netz islamistischer Strukturen.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, die die AKP tief in „wir“ (die guten Muslime) und „sie“ (die bösen Laizisten, also die Ungläubigen) gespalten hat. „Offene“ und „Verhüllte“ tauschen giftige Blicke auf den Straßen. Meine Mailbox ist täglich voll mit Konspirationstheorien über die bösen Zionisten. Anstatt mit einem staatlichen Sozialsystem beglückt die AKP die armen Millionen mit Korankursen und umsonst verteilten Säcken voll Mehl und Reis, mit Waschmittel und Holzkohle, um ihre Stimmen zu kaufen. Aus einer linken, demokratischen Perspektive ist es ausgeschlossen, diese Partei zu unterstützen. Wie ein Freund neulich sagte: „Nun muss jeder in sein eigenes Dorf.“ Linke und Liberale, die um der Demokratisierung willen der AKP ihre Sympathien oder gar ihre Stimmen geliehen haben, haben dafür keine Veranlassung mehr.

Lasst die (Neo-)Liberalen die AKP unterstützen! Dem Anleger ist egal, wie es den Menschen geht, an deren Börse er täglich steuerfrei verdient. Es ist ihm egal, dass die Erlöse aus der Privatisierungen nicht etwa in den Ausbau der Schulen und Universitäten, sondern in Korankurse fließen, die drei Millionen Kinder besuchen. Dass Frauen ohne Arbeit immer stärker in Abhängigkeit geraten. Dass die türkische Wirtschaft auf einem fragilen Fundament steht. Dass die Wachstums- und Inflationszahlen geschönt sind.

Gut geht es nur einer Handvoll von Menschen, dazu gehört jetzt auch die „muslimische Bourgeoisie“ der AKP.

Mit Emanzipation hat all das nichts zu tun. Die AKP ist nicht antimilitaristisch: Würde die USA sie nicht davon abhalten, sie würde sofort den Einmarschbefehl für den Nordirak unterzeichnen. Sie hat auch nichts Grundsätzliches gegen die Einmischung der Armee einzuwenden, sie stört sich lediglich daran, dass das Militär nicht proislamisch ausgerichtet ist.

Und dann die große EU-Lüge: Die AKP hasst den Lebensstil in der EU; sie will eine Mitgliedschaft ohne Aufklärung und Moderne, was absurd ist. Die AKP ist nicht reformistisch, denn was sie auf dem Papier verabschiedet, unterhöhlt sie mit ihrer politischen Praxis. Weder Mord noch Folter werden wirklich verfolgt und abgeschafft. Im Gegenteil: Die Kriminalität ist wegen der steigenden Armut enorm gewachsen, hinzu kommt die politische Kriminalität.

Der eines strengen Laizismus unverdächtige Soziologe Serif Mardin mahnt davor, dass sich derzeit in den muslimischen Milieus ein Fanatismus entwickelt, dem auch die AKP bald nicht mehr Herr werden könne. Sie könnte tatsächlich in die Lage Dr. Frankensteins kommen. So nimmt der Tschador parallel zum Antiamerikanismus und dem Hass auf Europa zu. Nach den Kindern werden Frauen massiv in Korankurse geschickt.

Die kemalistische Republik reformieren heißt nicht, sie völlig abzuschaffen und das als Fortschritt zu feiern. Es bedeutet, durch Reformen eine wirklich demokratische, flexiblere Gesellschaft aus freien, gut ausgebildeten Individuen anzustreben, und keine nach Religionen aufgeteilte, ignorante, arme und konsumgeile Fälschung des Osmanischen Reiches. Wen wählen? Zum Beispiel einen der unabhängigen linken Kandidaten.

Fotohinweis:DILEK ZAPTCIOGLU, 56, ist Journalistin und Schriftstellerin und lebt in Istanbul. Zuletzt erschien ihr Essayband „Türken und Deutsche – Nachdenken über eine Freundschaft“.