Alles hat seinen Sinn, irgendwie

Matthew Buckingham geht davon aus, dass jede Geschichte über die Vergangenheit von der Gegenwart handelt. Mit „Everything has a Name“ widmet das Museum Hamburger Bahnhof dem amerikanischen Künstler nun eine Ausstellung

VON ANDREAS RESCH

Auf der Suche nach einer Nordwestpassage nach Asien begibt sich der britische Forscher Henry Hudson am 11. September 1609 auf eine lange, beschwerliche Reise. Doch anstatt einen Seeweg nach China zu entdecken, segelt Hudson auf dem Fluss, der später nach ihm benannt werden wird und an dem heute New York liegt, so lange stromaufwärts, bis das Wasser zu flach ist, um ein weiteres Fortkommen zu ermöglichen.

Hudsons Geschichte ist Teil von Matthew Buckinghams Videoinstallation „Muhheakantuck – Everything Has a Name“, die zurzeit in einer Werkschau des New Yorker Künstlers im Hamburger Bahnhof gezeigt wird. Zu den Tonbandaufnahmen sieht man magentastichige, in ihrer Monotonie beinahe schon meditative Bilder des Hudson River, die der 1963 geborene Buckingham mit einer 16-mm-Kamera aus einem Hubschrauber heraus gefilmt hat.

Die ausgestellten Arbeiten setzen sich aus Bild- und Textelementen zusammen, die in komplexen, nie eindeutig dechiffrierbaren Verhältnissen zueinander stehen, die einander nicht einfach nur ergänzen oder kontrastieren, sondern vielmehr Spannungen aufbauen. Der Betrachter wird beim Versuch, sie aufzulösen, immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Es ist ein zentrales Anliegen Buckinghams, die Relativität von Geschichtsschreibung offenzulegen. Dafür dekonstruiert er die Bedeutung, die Orten, Namen, Daten und Mythen zugeschrieben wird. Sich auf Walter Benjamin berufend, geht er davon aus, dass „jede Geschichte über die Vergangenheit in Wirklichkeit eine über die Gegenwart ist“.

So wird in „Muhheakantuck“ auch die Art und Weise verhandelt, wie Ereignisse im kollektiven Bewusstsein mit bestimmten Daten, etwa dem 11. September, verbunden werden. Denn obwohl dieses Datum gemeinhin für die terroristische Attacke auf die USA steht, muss man sich nur weit genug auf der Zeitachse zurückbewegen, um Belege für Übergriffe in umgekehrter Stoßrichtung aufzuspüren, etwa Hudsons Eindringen in den Lebensraum der Lenape-Indianer.

Auch den fotografischen Werken Buckinghams ist dieses Reflektieren von mal privaten, mal öffentlichen Erinnerungen eingeschrieben. In „Everything I need“ sind auf einer Leinwand Textfragmente aus der Autobiografie der jüdischen Ärztin und Frauenrechtlerin Charlotte Wolff zu sehen, die in den Dreißigerjahren aus Berlin nach Paris, später nach London emigrierte: „One never knows the real reason why a person is attracted to another“, heißt es oder „My real life was an imagination“. Auf einer zweiten Leinwand werden Bilder – orangefarbene Sitze, Gepäckfächer, Neonröhren – aus dem Innenraum eines menschenleeren Flugzeugs gezeigt.

Mit der Zeit fügen sich die dekontextualisierten Sätze zu einer Geschichte, die den anfangs unverständlichen Bildern einen Sinn gibt. Man erfährt, dass Charlotte Wolff im Jahr 1978 nach mehr als vierzig Jahren nach Berlin zurückgekehrt ist, nachdem sie lange mit sich gerungen hatte, ob sie diesen Schritt tatsächlich wagen soll. Die vergilbten Fotos stehen nicht nur für diese Reise, sondern markieren gleichzeitig eine Linie, die frühe und späte Berlinerfahrungen miteinander verbindet.

In „Image of Absalon to Be Projected Until it Vanishes“ löst sich ein auf eine Wand projiziertes Bild einer Absalon-Statue langsam auf, indem die Glühlampe im Projektor die Emulsion auf dem Dia verbrennt. Auf einer Texttafel erfährt man etwas über den Streit um die Statue, der sich im Jahr 1901 ereignet hat. Darin ging es um die Frage nach der Notwendigkeit, bei der Einweihung des Denkmals auch auf die grausamen Taten des dänischen Krieger-Bischoffs hinzuweisen. Buckingham stellt das Verhältnis zwischen momentgebundener Einweihungsrede und für die Ewigkeit gemachter Statue auf den Kopf: Das Foto des Bildnisses verschwindet, der erläuternde Text bleibt zurück.

In diesem Verfahren offenbart sich das Prinzip, im Repräsentierten immer auch die Art und Weise der Repräsentation mit zu reflektieren. In „Muhheakantuck“ geschieht dies dadurch, dass im Erzähltext auf den Einsatz von Hubschrauberflügen zu Überwachungszwecken verwiesen wird und so Buckighams Helikopter-Aufnahmen in einen völlig neuen Kontext gestellt werden. Durch diese permanenten Sinnverschiebungen öffnen sich Denkräume, in denen die Frage nach der Deutungshoheit über Bilder und Texte diskutiert werden kann. Und gerade in ihrer diskursiven Art und Weise, die sich bewusst klaren Antworten verweigert, besteht das Verdienst dieser Ausstellung.

„Matthew Buckingham. Everything has a Name“. Bis 19. 8. im Hamburger Bahnhof