Zug um Zug ins soziale Abseits

Die Wirkung ist bewiesen, und doch bewegt sich wenig: Das Sportangebot in Knästen ist minimal. Gerade mal zwei Stunden pro Woche sind vorgesehen. Der Entwurf zum neuen Jugendstrafgesetz weckte deshalb viele Hoffnungen – und enttäuscht

Im vergangenen Jahr wurden die Länder vom Bundesverfassungsgericht und durch die Föderalismusreform aufgefordert, bis zum Ende dieses Jahres neue gesetzliche Regelungen für den Jugendstrafvollzug zu verabschieden. Berlin war mit Thüringen federführend in der sogenannten Neunergruppe, die einen gemeinsamen Entwurf als Basis für die jeweiligen Landesgesetze vorgelegt hat. Andere Bundesländer, darunter Bayern und Baden-Württemberg, verfassten eigene Gesetzentwürfe. Die anfängliche Euphorie, dem Sport in diesem Entscheidungsprozess einen größeren Stellenwert einräumen zu wollen, ist mittlerweile verflogen. HAS

VON TORSTEN HASELBAUER

9,5 Quadratmeter sind nicht gerade viel. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, viel mehr passt da nicht rein. Wer auf diesem engen Raum einige Zeit leben muss, der verspürt schnell einen kräftigen Bewegungsdrang. Auch bei Thomas Richter* war das nicht anders. Gleich nachdem er in die Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin wegen schweren Diebstahls „einfahren musste“, fragte er nach dem Sportangebot. Das war vor zwei Jahren.

Der 19-jährige Richter sitzt in seinem Trainingsanzug vor der Sporthalle und wartet, dass es nun endlich mit dem Fußball losgeht. Die Sportkleidung stellt übrigens die Strafanstalt. Doch die wenigsten Insassen ziehen diese auch über. „Die ist den jungen Inhaftierten viel zu uncool. Vor allem unsere Turnschuhe kommen bei denen nicht so gut an“, hat der Vollzugsbeamte für Sport in der JSA Berlin, Michael Siebert, beobachtet. Doch egal ob cool oder uncool – Thomas Richter nimmt im Sport der Jugendstrafanstalt Berlin „alles mit, was kommt“, wie er betont. Das ist nicht unbedingt so viel. Noch immer dominieren in der Berliner Jugendstrafanstalt die drei „Knast-Klassiker“ Fußball, Krafttraining und Tischtennis das Sportangebot. Zwei Stunden Sport in der Woche sind in der JSA Berlin zwar vorgesehen, mehr nicht. Das ist aber nicht verpflichtend. Meldet sich ein Sportbeamter krank, geht in den Urlaub oder wird mit anderen Aufgaben im Vollzugsdienst betreut, dann fällt der Sport aus.

Dabei bedeutet gerade das Kicken die oft einzige sinnvolle Abwechslung im meist monotonen Gefängnisalltag. „Wenn ich Fußball spiele, fühle ich mich deutlich besser. Und ich lerne auch mal andere Gefangene kennen, die in anderen Häusern sitzen“, sagt der durchschwitzte Richter nach dem 45-minütigen Fußballmatch in der warmen Halle. Was der Gefangene Richter beschreibt, können die insgesamt vier Berliner Sportvollzugsbeamten in der Jugendstrafanstalt bestätigen. „Die Insassen wirken durch den Sport deutlich entspannter. Wir merken schnell, dass durch den Sport die Teamfähigkeit der Aktiven verbessert wird. Die Guten ziehen die Schlechten mit. Das ist im Gefängnis ja nicht gerade der Alltag“, hat der Beamte Michael Siebert beobachtet. Es ist die berühmte „Ventilfunktion“, die den Sport hinter den dicken Gefängnismauern wohl am treffendsten charakterisiert. Der 45-jährige Sportbeamte Siebert ist wie seine drei anderen für den Anstaltssport zuständigen Mitstreiter im Besitz einer Übungsleiterlizenz „Fitness und Gesundheit“. Die erwarb er beim Landessportbund in 150 Lehrstunden.

In der Praxis hat das kleine Sportteam der Jugendstrafanstalt Berlin für über 600 männliche Jugendliche und Heranwachsende im Alter von 14 bis 23 Jahren ein Sportangebot auf die Beine zu stellen. Ein Mitarbeiter wird nun in die Rente gehen. Ob die Stelle wieder besetzt wird, ist fraglich. Dabei wäre es vonnöten. Die Jugendstrafanstalt am Friedrich-Olbricht-Damm im Bezirk Charlottenburg gilt – wie fast alle 27 Jugendstrafanstalten in Deutschland – derzeit mal wieder als überbelegt. Das Gelände mit seinen sechs Häusern war ursprünglich auf 500 Haftplätze ausgerichtet, die Regel sind rund 600 Gefangene.

Der Alltag hinter Gittern ist zumeist geprägt von Langeweile, Antriebslosigkeit und Frust. Und da kommt der Sport ins Spiel. Denn die Wirkung von Sport in Haftanstalten ist unbestritten. Sie unterscheidet sich nicht einmal großartig von den positiven Eigenschaften, die dem Sporttreiben auch „draußen“ zugeschrieben werden. „Mit Sport können die negativen Auswirkungen für die Gefangenen wie Bewegungsarmut, wenige soziale Kontakte und hohes Stresspotenzial zwar nicht aufgehoben, aber zumindest eingeschränkt werden“, berichtete der Göttinger Erziehungswissenschaftler Jürgen Schröder auf einer Tagung der Deutschen Sportjugend zum Thema „Sport im Jugendstrafvollzug“ in Berlin. Und Sport trage viel zu einer „sozialen Sicherheit“ im Knast bei, sagt Schröder.

Das alles ist sogar wissenschaftlich belegt. Dennoch ist es gerade deshalb so verwunderlich, dass der Sport in den neuen Gesetzgebungen zum Jugendstrafrecht der Länder so wenig und unbestimmt Platz einnimmt. „Jeder weiß doch um die Bedeutung des Sports für die Gefangenen, und doch bleibt nicht mehr als eine Kann-Bestimmung übrig“, klagt der Geschäftsführer der Hessischen Sportjugend, Klaus Jürgen Tolksdorf. Der 58-jährige Leiter der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft „Sport im Jugendstrafvollzug“ hatte sich gerade von der neuen Gesetzgebung der Länder in Berlin und anderswo einiges mehr für den Sport versprochen. Das bis heute und seit seiner Auflegung im Jahre 1978 geltende Jugendgerichtsgesetz (JGG) erkannte zwar den Sport, vormals „Leibesübungen“, als „eigenständiges Erziehungsmittel“ im Jugendstrafvollzug an. Doch ein verpflichtendes Sportangebot und die verpflichtende Bereitstellung einer angemessenen personellen, baulichen und sachlichen Ausstattung der Haftanstalten sah das geltende Gesetz nicht vor. „Daran wird sich nun leider nicht viel ändern“, ärgert sich Klaus Jürgen Tolksdorf. Der Frust sitzt tief, nicht nur bei den wackeren Sportfunktionären.

Denn vom Sport ist in dem Berliner Gesetzentwurf nicht mehr viel übrig geblieben. „Es gibt keine Verbindlichkeit“, sagt Tolksdorf frustriert. Dabei wurde die Sportjugend nie müde, sich für ein Sportangebot in den Jugendstrafanstalten als gesetzliche Muss-Bestimmung einzusetzen. Mindestens zwei Stunden in der Woche sollte das Sporttreiben gesetzlich festgeschrieben werden. „Eigentlich eine Minimalforderung“, wie Tolksdorf anmerkt. Denn die sportliche Realität hinter den Mauern bleibt bis heute selbst hinter diesen beiden mageren Stunden zurück. Auch in der Berliner Jugendstrafanstalt. „Im Knast hat der Sport einfach keine Lobby. Sport fällt hier genauso oft aus wie in der Schule“, hat Hartmut Schnur, Vorstandsmitglied der Berliner Sportjugend in der JSA Berlin, beobachtet. Es fehlt überall an Personal. Deshalb werden die Gefangenen nicht selten stundenlang auf ihrer Zelle weggeschlossen – und damit zu Bewegungsarmut verdammt. Gleichzeitig jedoch steigt durch das „Wegschließen“ das Aggressionspotenzial der Jugendlichen in den Haftanstalten signifikant an.

Und wenn es dann ein Sportangebot gibt, ist es nur selten attraktiv. Nahezu sämtliche Sporttrends der vergangenen Jahre sind am Knastleben vorbeigegangen. „Streetball, Inlineskating, Walken oder Klettern, diese Bewegungsformen gibt es doch so gut wie in keiner Haftanstalt in Deutschland“, hat Hartmut Schnur ausgemacht. „Warum sollen die Inhaftierten nicht die Möglichkeit bekommen, mal eine ganz neue Sportart zu lernen? Einfach einen Ball in die Halle zu schießen, das ist zwar einfach, bringt aber nicht viel“, sagt Tolksdorf.

* Name von der Redaktion geändert