: Die Kamera ist neugierig
KINO Schmuggler und Asylwerber und die Frage nach Gerechtigkeit: eine Umschau beim Filmfestival Locarno
VON ISABELLA REICHER
Zuerst ist da das Haus: eine kleine, nicht mehr ganz frische Villa mit Garten in Buenos Aires. Es ist Sommer, die Bewohnerinnen dämmern in der Hitze vor sich hin, ein Knäuel aus Leibern auf einem Sofa. Mit der Zeit bekommen die drei jungen Frauen Profil und Geschichte: Marina, Sofia und Violeta sind Schwestern. In dem Haus sind sie in der Obhut ihrer Großmutter aufgewachsen. Seit Kurzem ist die Oma tot, die Verhältnisse sind noch nicht neu geordnet, die individuellen Interessen und Wünsche liegen im Widerstreit mit den praktischen Anforderungen und Möglichkeiten.
„Abrir puertas y ventanas“ („Back to Stay“) von Milagros Mumenthaler beschreibt den Prozess der Trauer und des Umbruchs in einer eigenwilligen Sprache. Die Kamera streift wie eine neugierige Besucherin durch die Räume des Hauses, die Geheimnisse und Überraschungen bergen. Der Film setzt auf Atmosphären und stellt skurril anmutende (Slapstick-)Szenen unvermittelt neben dramatische Handlung. Er passt Sprünge und Mehrdeutigkeiten nicht nach und nach in den gewitzten Masterplan einer allwissenden Autorin ein – vielmehr gelingt dieser das Kunststück, ihr Publikum bis zum Ende auf leichte Weise zu überraschen.
Das Debüt der 1977 geborenen, argentinisch-schweizerischen Autorin und Regisseurin wurde denn auch mit dem Goldenen Leoparden, dem Hauptpreis des 64. Internationalen Filmfestivals von Locarno, prämiert. Auch die Jury der internationalen Filmkritik (FIPRESCI) kürte ihn zu ihrem Favoriten, und die Darstellerin der Marina, María Canale, wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
Der Tod und ein Kobold
Durch den jüngsten Film des Japaners Shinji Aoyama spuken ebenfalls Tote: Koji, ein Amateurfotograf, hat früh seine Mutter verloren – der er nun mit der Kamera nacheifert –, und sein verunglückter Mitbewohner ist als eine Art gelbstichiger Kobold und treuer Ratgeber nach wie vor in der gemeinsamen Wohnung präsent. „Tokyo Koen“ („Tokyo Park“) wirkt im Vergleich mit Werken Aoyamas wie „Eureka“ (2000) oder „My God, My God, Why Hast Thou Forsaken Me?“ (2005) wie ein Zwischenspiel, das seinen melancholischen Figuren gleichwohl mit großem visuellem Feingefühl begegnet.
Aoyama erhielt einen Spezial-Goldleoparden für „sein bemerkenswertes Filmschaffen“, und auch mit ihrer besonderen Erwähnung für „Un amour de jeunesse“ würdigte die Jury ausdrücklich einen der leiseren Beiträge des Wettbewerbs: Die Französin Mia Hansen-Love begleitet in ihrem dritten Spielfilm mit größter Souveränität im Umgang mit Zeit die Jugendliebe von Camille und Sullivan, die abrupt endet und fast zehn Jahre später ein Nachspiel hat.
Die Ausschaffung der Asylwerber
Ein anderer Strang von Arbeiten dieses Locarno-Jahrgangs gab sich weniger aus der Zeit gefallen: Politiker und Bürokraten ordnen die Welt und brauchen dafür laufend neue Wörter. In der Schweiz etwa heißt das Zurückschicken abgelehnter Asylwerber in ihr Herkunftsland herzhaft „Ausschaffung“. Bevor es zu dieser kommt, werden die Auszuschaffenden nach Frambois bei Genf oder in ein anderes von 28 gefängnisähnlichen Ausweisungszentren gebracht – der Aufenthalt kann bis zu 24 Monaten dauern.
Der Schweizer Dokumentarist Fernand Melgar, der vor drei Jahren in „La Forteresse“ Menschen in einem Schweizer Erstaufnahmezentrum porträtiert hat, hat sich nun an den glücklosen Ausgang eines Einwanderungsgesuchs begeben. Sein neuer Dokumentarfilm heißt „Vol spécial“, und er ist Joseph Ndukaku Chiakwa gewidmet, der bei einem solchen Spezialflug in Richtung Nigeria ums Leben kam. Im Geiste des Direct Cinema nehmen Melgar und sein Team, ohne selbst zu intervenieren oder zu kommentieren, am Alltag der „pensionaires“ von Frambois teil. Sie treffen auf Männer, die ihr halbes Leben in der Schweiz zugebracht haben, hier nun Frauen und Kinder zurücklassen sollen. Und auf freundliches Personal, dessen aufrichtiges Bemühen um „Würde und Respekt“ im Ernstfall doch nur als Soft Skill eines Machtapparats erscheint.
Aki Kaurismäkis außer Konkurrenz geladener, jüngster Spielfilm „Le Havre“ entfaltete vor diesem Hintergrund umso deutlicher seine Wirkung als märchenhaftes Zivilgesellschaftsplädoyer. Und selbst in der Historie spiegelte sich die Gegenwart: „Les chants de Mandrin“ von Rabah Ameur-Zaimeche, ein weiteres Highlight des Festivals, setzt nach der Hinrichtung des französischen Outlaws Louis Mandrin Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein. Die hinterbliebenen Schmugglerkameraden und ein freigeistiger Marquis wollen sein Andenken hochhalten, auf freien Märkten sollen die Gesänge des furchtlosen Mandrin als Broschüre zu erwerben sein.
Die Tugend der Schmuggler
„Les chants de Mandrin“ ist dabei ein ganz ernsthafter, „armer“ Kostümfilm. Beispielsweise gibt es kaum Musik, und wenn dann wird sie mit erstaunlichen Effekten mit Drehleier und Trommel produziert. Aber der Film erlaubt sich auch kleine, verschmitzte Ausritte – nicht zuletzt zu Pferde, wo die Männer im Gegenlicht kurz zu Westernhelden werden. Oder wenn die Gesetzlosen sich in Zeiten, da Halsabschneider regieren, zu den eigentlich Tugendhaften erklären – die unverblümten Zugriffe der Schmuggler können manchmal die allerrichtigsten sein.