: Besuch der Grenzfiguren
Der Mensch beginnt als Kopffüßler – im Bild: Das Krankenhausmuseum zeigt die Sammlung Hartmut Kraft
Sie sind mit uns. Sie sind um uns. Sie sind überall. Sie grinsen, strahlen, das soll freundlich wirken. Als Reklamefiguren für Schokodrops, Frühstücksbecher, Zuckerstreuer – Kopffüßler. Kopffüßler nennt man Figuren, die aus Füßen und einer kugeligen Gesicht-Rumpf-Synthese bestehen, manche haben auch Arme. Es gibt sie in alle Kulturen, sie spielen eine tragende Rolle in der Gegenwartskunst und in präkolumbianischer Zeit. Ein Kind fängt an Menschen zu zeichnen? Es malt einen Kopffüßler. Sagt die Psyche: Regression jetzt!, findet sich, unter Stift oder Pinsel, das Urmotiv ein. Oft. Fast immer.
Das zeigt, ausgestellt im Krankenhausmuseum, die Sammlung Hartmut Kraft: Es ist eine von drei, die der Kölner Psychoanalytiker aufgebaut hat. Eine andere, „Kunst auf Rezept“, gastierte vergangenes Jahr im Klinikum Ost. Kopffüßler widmet sich dem einen, titelgebenden Motiv. Qualität – ist auch ein Kriterium, aber nicht das herrschende. Man trifft hier auf frappierende Grafiken von Horst Antes, Skizzen von Sigmar Polke und rabiate, großformatige Kohlezeichnungen von Peter Gilles. Es gibt Blätter von Psychiatrisierten, hochwertige antike Grabbeigaben aus Peru mit unklarem kultischen Hintergrund. Zu sehen sind klassische Kinderzeichnungen, geschnitzte Pflanzstöcke aus Westafrika – und irrsinnige Staubfänger aus Werbedesign-Werkstätten. Manchmal sind die Wertunterschiede tückisch verwischt: Eine der afrikanischen Holzplastiken, feierlich in einer Vitrine aufgebahrt, erweist sich als kruder Stilmix – Flughafen-Kunst nennt man Schnitzereien, die von Touristen als Souvenir gerne mitgenommen werden. Ja ist denn alles eins?
Keineswegs. Einerseits findet man sich selten einer so schlagkräftig vorgetragenen Universalismus-These gegenüber. Und Kraft spricht sogar von einem „in uns angelegten Bildmuster“. Aber gerade der rabiate Epochen-Mix öffnet die Augen für Unterschiede: „Über Jahrtausende waren die Kopffüßler Furcht einflößende Wesen“, stellt Kraft in seinem Katalog fest, beschreibt einen Unheilsbringer der Inouit – und lädt dazu ein, sich zu wundern: Dass die zeitgenössischen Gebrauchs-Kopffüßler – Überraschungs-Ei und Plastik-Spardose – „überwiegend freundlich“ dreinblicken. Warum eigentlich? Und tun sie das wirklich? Und sind sie nicht gerade dadurch Grauen erregend? Kann es denn ein „in uns angelegtes Bildmuster“ geben, dessen Bedeutung sich so vollkommen wandelt?
Fest steht: Kopffüßler bewohnen die Grenzbereiche des Lebens. In der Ethnologie, so Kraft, seien sie häufig mit Zuständen wie „Schlaf, Rausch, Tod und Initiation verknüpft“, als Darstellungen von „Geburt, Tod und Wiedergeburt“ hat sie auch die Gegenwartskunst neu entdeckt. In Lumpen gehüllt und merkwürdig gekrümmt liegt, einen Knochen zwischen die Beine geklemmt, eine Plastik von Gille auf einem weißen Sockel. Der Künstlerkopf in Beton, seine alten Schuhe an den Füßen: In ihrem letzten Entwicklungsstadium hat Gille sie mit Leim und Erde übergossen – ein symbolisches Begräbnis. „Kopffüßler“ hat er sie genannt. bes
Krankenhaus- Museum am Klinikum Bremen Ost, Eröffnung: Heute, 19 Uhr. Bis 2.9.