Die Berliner Dachterrasse

taz-Sommerserie „Unbekannte Orte“ (Teil 5): der Kreuzberg. Millionen Touristen waren schon oben. Millionen Berliner noch nie. Einer der standhaften Ignoranten gibt nach. Für die taz erklimmt er den Gipfel und entdeckt Bier, Eis und vorgegrilltes Huhn

Das sagt „berlin.de“ zum Kreuzberg: nix!

Das sagt der „Lonely Planet“: „Von hier bieten sich schöne Ausblicke, besonders im Winter, wenn die großen Bäume kein Laub tragen und den Blick auf zahlreiche Wahrzeichen der Stadt freigeben.“

Öffnungszeiten: ganz Kreuzberg-mäßig immer

Nächsten Dienstag: Nina Apin über das Olympiastadion

VON MARTIN REICHERT *

Besuch aus meiner alten Heimat, dem Naturschutzgebiet Südeifel, will in Berlin nicht auf Berge klettern. Die zu Hause sind viel höher und schöner. Wenn überhaupt, dann möchten sie den Prenzlauer Berg sehen. Der ist bekannt aus Funk und Fernsehen – sie fragen dann allerdings immer, wo denn nun bitte schön der Berg sei.

Und das schöne Schinkel-Denkmal oben auf dem Kreuzberg, das an die Befreiungskriege erinnert? Interessiert auch niemanden. In Koblenz hält schließlich der stählerne Kaiser Wilhelm II. persönlich die Wacht am Rhein – auf dem Deutschen Eck. Außerdem sieht das Ding daoben auf dem Kreuzberg aus wie die Spitze des Kölner Doms. Last but not least: Auf dem Kreuzberg wird zwar tatsächlich Wein angebaut, der sogenannte „Kreuz-Neroberger“, doch mit dem Mosel-Riesling kann er sich natürlich nicht messen. Der wiederum wird auf dem Fernsehturm ausgeschenkt, der viel höher ist als der Kreuzberg.

Nein, der Kreuzberg ist kein Ausflugsziel für Besuch aus „Westdeutschland“. Auch in der eigenen Kartografie fehlte er bislang: Weiter als bis zum „SchwuZ“ am Mehringdamm bin ich nie gekommen. So was passiert. Peinlich.

Ein der Lokalität kundiger Scout aus dem Freundeskreis führt zur Expedition ins Ungewisse. Und siehe da: Der Kreuzberg ist ein feiner, schöner, richtiger Berg. Nicht von rauher Trümmerfrauen Hand aufgeschichtet wie sonst üblich in Berlin, sondern ein 66 Meter hoher HÜGEL. Der bildet die ordnungsgemäße Südgrenze des Berliner Urstromtals, dessen „relativ steile Nordabdachung auf die Schmelzwassererosion im Berliner Urstromtal zurückgeht“. So sehen das die Geologen.

Noch heute erinnert ein künstlicher Wasserfall an das Schmelzwasser, er plätschert durch die zugehörige Parkanlage, in der Grillen total verboten ist. Famos sei der Ausblick auf die Stadt bei Sonnenuntergang, schwärmte der Scout zu Beginn des Aufstiegs. Oben angekommen, war es dann wie in der Südeifel auf dem Dorf: Schon auf dem Treppenabsatz bekannte Gesichter und auf dem Plateau liefen wir direkt in eine Geburtstagsfeier, zu der auch zwei KollegInnen eingeladen waren – eine konnte nicht richtig laufen, sie hatte sich für diese taz-Serie den Knöchel verstaucht, als sie die Siegessäule erklommen hatte.

Die Biere kuschelten sich in einem quietschgelben Planschbecken an Crushed Eis von der Tankstelle. Es gab eine ausreichende Bestuhlung (!) und ein hervorragendes Buffet mit Spinattaschen und Rosmarin-Kartoffeln – wer will da noch grillen. „Wir haben eben keine Dachgeschosswohnung, deshalb feiern wir hier!“, erklärte die Gastgeberin, die uns auch ohne Einladung herzlich zu ihrem 30. Geburtstag willkommen hieß – und das, obwohl wir aus Versehen fast auf ein am Boden fleuchendes Krabbelkind geascht hätten.

Der Sonnenuntergang, verstärkt durch den alkoholischen Filter, war denn auch tatsächlich grandios. Man genoss ihn gemeinsam mit all den anderen Menschen aus Kreuzberg, die kein Dachgeschoss haben. Überall auf dem Plateau und den Treppen wurden vorgegrillte Hühnerbeine zu Prosecco on Ice gereicht, und aus dem Ghetto-Blaster ertönte Morrissey. „Erwachsen werden ist doch ganz schön“, sagte jemand, „auch weil das Essen besser wird.“

Kennen Sie das? Alle Ihre Freunde aus Dortmund, Alpirsbach und Pirna waren schon auf der Reichstagskuppel, im Pergamonmuseum und am Wannseestrand – als Touristen. Und jedes Mal, wenn sie mit Ihnen sprechen, schwärmen die Freunde davon, wie eindrucksvoll das doch war. Und Sie? Trauen sich nicht, zu verraten, dass Sie zwar jeden kleinen Händler im Bergmannkiez und jedes Café am Savignyplatz kennen, aber einige dieser Berlin-Highlights noch nicht mal aus der Ferne – obgleich Sie schon seit 14 Jahren in der Stadt leben. Macht nichts: Das geht vielen Berlinern so, sogar taz-Redakteuren. Jetzt soll sich das aber ändern. In unserer Sommerserie besuchen tazler jene berühmten Orte, an denen sie noch nie waren. Heute: der Kreuzberg.

Stimmt vielleicht. Neulich auf dem Trümmerberg „Mont Klamott“ in Friedrichshain war es im Vergleich weniger entspannt: Seltsam aussehende Menschen glaubten, eine echt total spontane Goa-Party veranstalten zu müssen, die Augen tränten aufgrund diverser Grillstätten, und zu sehen gab es auch nur Bäume, zu deren Füßen Fäkalien deponiert waren.

Wir hingegen ließen uns den Kreuzberg wieder runterollen und landeten schon wieder dort, wo wir nicht eingeladen waren: auf einer Hochzeitsfeier in der Nähe des Chamisso-Platzes. Der Bräutigam spendierte Caiphirinhas und wird sich später mal wundern, wer eigentlich diese Typen auf den Fotos sind.

Mehr weiß ich nicht über den Kreuzberg. Nur, dass es noch viel mehr Berliner gibt, die noch nie dort waren. In diversen Bars rund ums Kottbusser Tor mussten wir später jedenfalls allen berichten, wie es denn so war. Dem Yeti waren wir nicht begegnet – aber wir hatten ein Stück von jenem Berlin erlebt, das immer eine Reise und auf jeden Fall einen Hauptwohnsitz wert ist.

* Martin Reichert lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin und war schon oft in Kreuzberg, aber noch nie obendrauf