Keine Familie ohne Geheimnisse

ZERREISSPROBE Zwei ungleiche Brüder und die Urne des Vaters im Fiat 500: der nostalgische Roadcomic „Come Prima“ des Zeichners Alfred

Eingeschoben sind immer wieder Erinnerungen an das faschistische Italien

VON RALPH TROMMER

Die Situation erinnert an einen Western. Nach zehn Jahren Funkstille stehen sich zwei Brüder, Italiener, eines Abends auf einem trostlosen Hinterhof gegenüber, in großem Abstand. Der jüngere, Giovanni, hat den älteren Bruder Fabio, der der Familie vor Jahren den Rücken kehrte, mit Mühe in der französischen Provinz ausfindig gemacht, um ihm mitzuteilen: „Ich bin mit Vater hier.“ Als er eine Urne hervorzieht, wird Fabio klar, wie der Satz gemeint war. Er soll mit Giovanni zurück nach Italien reisen, um den Vater zu beerdigen.

In diese Konfrontation eingeschnitten sind Ausschnitte aus einem Boxkampf. Fabio verdingt sich als Boxer und hat seinen letzten Kampf gerade hinter sich. Die daraus aufblitzenden Flashbacks geben der Szene Dynamik, kommentieren den zähen Dialog der einander fremd gewordenen Brüder bissig und enden mit dem K.o. Fabios – ein Hinweis, dass er noch nachgeben und seinen Bruder begleiten wird.

Schon diese geradezu filmische Sequenz zu Beginn der Graphic Novel „Come Prima“ verwickelt den Leser in ein dichtes Beziehungsgeflecht. Es ist ein Zweipersonenstück voller Abwechslungsreichtum, immer wieder verblüffen kleine Raffinessen, mit denen der französische Zeichner Alfred seine Geschichte erzählt. Von Anfang an spürt man, dass den Charakteren ein Geheimnis innewohnt. Eine ähnliche Wirkung zu erzeugen war Alfred zuvor schon einmal gelungen: In seiner 2010 auf deutsch veröffentlichten Graphic Novel „Warum ich Pater Pierre getötet habe“ setzte er die traumatischen Missbrauchserfahrungen seines Freundes Olivier Ka in Zeichnungen um, letztlich tieftraurig und ergreifend.

Mit subtilen Einfällen

In „Come Prima“ (sinngemäß: „Wie gehabt“) entwirft Alfred, der in Frankreich bereits zahlreiche Comics veröffentlichte, erstmals selbst das Szenario, das zunächst keinen persönlichen Bezug zu haben scheint; die Geschichte der Italiener ist in den späten fünfziger Jahren angesiedelt, Alfred ist ein 1976 geborener Franzose. Doch der Schein trügt. Alfred hat italienische Wurzeln, es gibt zahlreiche Verweise auf die eigene Familie.

Die Figuren sind weniger karikaturhaft als in „Pater Pierre“ gezeichnet, aber ebenso ausdrucksstark. Die lebendigen Zeichnungen passen sich dem ruhigen Erzählton an, beginnen während der Lektüre geradezu ineinanderzufließen. Mit subtilen Einfällen taucht Alfred seine Szenen in unterschiedliche Stimmungen. So entsteht ein in warme Farben getauchter, nostalgischer Roadcomic über zwei ungleiche Brüder – der ältere mürrisch und aggressiv, ein Herumtreiber, der sich als Ausgestoßener fühlt; der jüngere still, sanftmütig, heimat- und familienverbunden. Die Fahrt in einem engen Fiat 500 wird für die Brüder zur Zerreißprobe. Neben dem immer wieder aufflammenden Bruderkonflikt gibt es lange Sequenzen voller Stille, in denen der Leser mit Fabio die einst vertraute Landschaft wiederentdeckt. Ein – wie Fabio – herrenloser Hund wird aufgelesen und zum treu wedelnden Begleiter der beiden. Später erfährt sein unschuldiger Part eine pfiffige Umdeutung.

Immer wieder eingeflochten werden Erinnerungsbilder, die sich stilistisch von der Hauptgeschichte unterscheiden: Wie im Siebdruck werden wesentliche Linien und Farbflächen hervorgehoben. Es sind diffuse, in ein trügerisch helles Licht getauchte Erinnerungen der Brüder an das faschistische Italien, an Massenjubel und brutale Übergriffe bei einem Auftritt des Duce. Fabio schloss sich als Jugendlicher den faschistischen „Schwarzhemden“ an, die seinen kleinen Bruder eher ängstigten. Alfred verarbeitet hier Erinnerungen seines Großvaters und seines Großonkels. Seine Familie wurde wie die der meisten Italiener in dieser Zeit zerrissen: Der eine trat den Faschisten bei, der andere der KP.

Auf einer Etappe der Reise begegnen Fabio und Giovanni einem älteren Priester, der in Fabio eine ähnliche Biografie wie die eigene, vielleicht einen Seelenverwandten vermutet. Der Priester legt dann, in ironischer Umkehrung seiner üblichen Rolle, vor dem „bösen Buben“ Fabio eine Beichte ab, erzählt mit leuchtenden Augen von einem Mord als einem Moment der Offenbarung, bevor er sich dem Widerstand anschloss. Zu seiner Enttäuschung entgegnet Fabio, zur gegnerischen Seite gehört zu haben. Der Autor Alfred verurteilt nicht, er lässt seine Charaktere sprechen. Fabio, so viel wird klar, wurde in der Jugend von Abenteuerlust angetrieben und ließ sich von den Faschisten einfangen, wurde dadurch zu einem Getriebenen, der auch nach dem Krieg weiterhin auf der Flucht lebte.

Auch der sensible Giovanni hat seine Geheimnisse, und am Ende der (mit weiteren Überraschungen aufwartenden) Reise wird der grimmige Fabio eine Gelassenheit entwickelt haben, die ihn – vermutlich – nicht gleich wieder wegtreiben wird.

Eine Psychoanalyse half dem Autor Alfred, die eigene Familiengeschichte in den Griff zu bekommen. Er verwandelte sie für seinen Comic-Roman in eine neue Geschichte, die nur noch dezent autobiografisch, dafür umso allgemeingültiger wurde. Federleicht und mit verschmitztem Humor erzählt Alfred von den schönen wie den hässlichen Seiten des Lebens und hinterlässt im Leser einen nachhaltigen Eindruck zweier Charaktere, deren Schicksale berühren. Dabei gönnt er sich immer wieder kleine formale Experimente, die zugleich heiter stimmende Abschweifungen darstellen, wenn etwa seitenlang nur Wolkengebilde zu sehen sind, bevor der Hund zu sprechen beginnt.

Alfred: „Come Prima“. Aus dem Französischen von Volker Zimmermann. Reprodukt, Berlin 2014, 224 Seiten, 34 Euro