: Amerikanische Tatorte
NEW COLOR PHOTOGRAPHY Die große Joel-Sternfeld-Retrospektive des Folkwang Museums in Essen entwirft ein beeindruckendes Panorama der US-amerikanischen Kultur
VON MAIK SCHLÜTER
Attentate, Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Brandstiftung, Umweltvergiftung, Betrug, Unfälle oder Selbstmord. Der 1944 in New York geborene amerikanische Fotograf Joel Sternfeld zeichnet ein düsteres Bild seines Heimatlandes. Jede Art von Verbrechen und Gewalt ist dokumentiert: Amokläufe, Hinrichtungen, Sexualverbrechen, rassistische Gewalt, polizeiliche Übergriffe, aber auch politische Entscheidungen, die soziale und historische Ungerechtigkeiten zementierten, oder skrupellose Formen der Umweltverschmutzung. Auf seinen Farbfotografien sieht man diese Taten nicht. Er fotografierte die Orte des Geschehens im Nachhinein und stellte den Bildern ein kurzes Statement zur Seite, das den Tathergang, den Zeitpunkt, die Opfer und Täter und den Status der Aufklärung beschreibt. Die Arbeit „On this Site“ (1993–96), deren deutscher Buchtitel treffend „Tatorte-Bilder gegen das Vergessen“ lautet, ist ein intensiver Bildessay, der die Möglichkeiten der dokumentarischen Fotografie als Mittel der Aufklärung und Anteilnahme überzeugend ausschöpft.
Ästhetik und Emphase
Sternfeld verbindet im kollektiven Gedächtnis verankerte Gewaltverbrechen wie den Mord an Martin Luther King jr. 1968 in Memphis oder den bis heute ungeklärten Unfalltod der Laborantin Karen Silkwood, die als Angestellte die kriminellen Machenschaften ihrer Plutonium verarbeitenden Firma aufdecken wollte und dabei ums Leben kam (1974), mit dem Schicksal unbekannter Opfer von teilweise unvorstellbaren Gewaltakten. Der Fotograf beweist mit dieser Arbeit Emphase und ein dezidiert kritisches Bewusstsein. Er schafft es, Ästhetik und Aussage zu einem gesellschaftspolitischen Diskurs zu verdichten, der eine Geschichte der Gewalt jenseits billiger Schlagzeilen erzählt. Der Fotograf Sternfeld gehört zu den wichtigen Protagonisten der amerikanischen New Color Photography und etablierte die Farbfotografie seit Mitte der 1970er als anerkanntes Ausdrucksmittel im Kontext der Kunst. Zusammen mit Fotografen wie Stephen Shore, Richard Misrach, Joel Meyerowitz oder William Eggelston ist er mittlerweile zum Klassiker avanciert.
Die im Folkwang Museum Essen von Kuratorin Ute Eskildsen und Joel Sternfeld konzipierte Retrospektive beginnt daher auch mit bisher unveröffentlichten Fotografien aus den 1970er Jahren und zeigen ihn als einen frühen Meister der Farb- und Raumkomposition. Die Bilder bestechen durch ihre Brillanz und ihr Zeitkolorit und bereiten den Weg für ein Hauptwerk im Oeuvre des Künstlers vor: „American Prospect“ (1979–83). Findet bei den „Tatorten“ das zentrale Geschehen im beigestellten Text und in der Vorstellungswelt der Betrachter statt, geht Sternfeld bei „Amercican Prospect“ den umgekehrten Weg. Erzählerisch verdichtete Bilder, von denen man mitunter kaum glauben kann, dass sie nicht inszeniert sind. Diese Bilder gehören mittlerweile zum visuellen Kanon der zeitgenössischen Fotografie. Die Vielfalt der Personen und Szenen bildet ein beeindruckendes Panorama amerikanischer Kultur ab. Manche Bilder haben eine fast surreale Note: Ein Feuerwehrmann, der seelenruhig Kürbisse in derselben Farbe seiner orangenfarbenen Jacke an einem Stand im Garten kauft, während im Hintergrund des Bildes ein Haus brennt und die Kollegen auf dem Leiterwagen stehen und den Brand löschen (McLean, Virgina, 1978). Oder ein auf einer verlassenen Landstraße zusammengebrochener Elefant, der vom Sheriff und einigen Helfern mit Wasser bespritzt wird, damit er sich von seiner anscheinend anstrengenden Flucht erholen kann (Exhausted Renegade Elephant, 1979). Bilder, die wie Filmstils wirken und die sich als Wegweiser und Inspirationsquelle für die aufwendigen Inszenierungen eines Jeff Wall oder Gregory Crewdson erweisen. „American Prospect“ ist das Opus magnum von Joel Sternfeld. Eine Arbeit von einzigartiger Qualität und Relevanz.
Sorge um die Welt
Daneben wirken Arbeiten wie „Oxbow Archive“ (2005–07) oder „Walking the High Line“ (2000/01), die zwar ambitionierte Langzeitbetrachtung von landschaftlichen und urbanen Veränderungen sind, eher bieder und langweilig. Auch die Arbeit „Sweet Earth“(1993–2005) ist eine kulturgeschichtlich spannende Recherche über Utopien und Aussteiger in den USA. Verglichen mit den „Tatorten“ erreicht aber auch diese durch Texte ergänzte Arbeit kaum deren Intensität und Komplexität. Fast scheint es so, als müsse der Fotograf sich konzeptuell absichern, um seine Bilder zu machen. Dieses Vorgehen missglückt in zwei Arbeiten völlig: Die Videoinstallation „When it Change“ (2005) zeigt Porträts der Teilnehmer verschiedener Staaten bei der Klimakonferenz in Montreal 2005. Untermalt mit einem getragenen Thrillersound und kaum lesbaren Textblöcken von Beschlüssen und Anträgen soll hier ein Gefühl der Bedrohung und Bedeutsamkeit erzeugt werden. Bilder, Text und Sound sind so hölzern miteinander verbunden, dass einem die penetrante Message von der Sorge um das Weltklima völlig kaltlässt. Gleiches gilt für die Arbeit „Treading on Kings“ (2001), die Porträts von Antiglobalisierungsgegnern beim G-8-Treffen in Genua und deren stereotype Kommentare abermals als Bild-Text-Kombination zeigt. Man erfährt allerdings nichts, was man nicht auch schon in anderen Medien vermittelt bekommen hätte. Sternfelds politisches Interesse findet in diesen Arbeiten zu keiner ästhetischen Form und Finesse.
Ganz anders, wenn er auf vordergründige Konzeptionen verzichtet und auf seine fotografischen Fähigkeiten setzt. „Stranger Passing“ (1987–2000) zeigt Porträts von Menschen aller sozialen Schichten, denen Sternfeld in New York oder in Baton Rouge begegnet, die als Anwälte oder Blumenverkäufer arbeiten, die alle eine Rolle und ein Outfit haben, deren Gestus und Blicke aber nie gekünstelt wirken. Sternfeld bewertet nicht, sondern zeigt den Obdachlosen mit der gleichen Wärme und dem gleichen Respekt wie die Ladies aus der Upperclass. Die Porträts sind ein weiteres Meisterstück des Amerikaners, der dank angesichts dieser Bilder zu Recht als einer der wichtigsten Fotografen der Gegenwart bezeichnet wird.
■ Bis 23. Oktober, Museum Folkwang, Essen, Katalog (Steidl Verlag) 38 Euro