: Lautes Bellen aus Schloss Bellevue
SCHULDENKRISE Bundespräsident Christian Wulff kritisiert hektische Eurorettungspolitik: „Dies trifft unsere Demokratien im Kern.“ Murren in der Union über Merkels Kurs nimmt zu. Auch Exkanzler Kohl meckert
EXBUNDESKANZLER HELMUT KOHL
BERLIN taz | Bundespräsident Christian Wulff hat die Politik und die Europäische Zentralbank scharf für ihre Entscheidungen in der Schuldenkrise kritisiert. „Statt klare Leitplanken zu setzen, lassen sich Regierungen immer mehr von den globalen Finanzmärkten treiben“, sagte Wulff am Mittwoch auf einer Tagung von Wirtschaftsnobelpreisträgern in Lindau. Immer öfter träfen sie weitreichende Entscheidungen kurz vor Börsenöffnung, anstatt den Gang der Dinge längerfristig zu bestimmen, sagte Wulff laut Redemanuskript. „Dies trifft unsere Demokratien im Kern.“
Wulff sagte, die Politik müsse ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und sich davon lösen, hektisch auf jeden Kursrutsch zu reagieren. Sie dürfe sich nicht „am Nasenring durch die Manege führen lassen“ von Banken, Ratingagenturen und Medien. Stattdessen habe sie „Gemeinwohl zu formulieren, auch mit Mut und Kraft im Konflikt mit Einzelinteressen“. Ebenso habe sie „langfristig orientiert zu sein und, wenn nötig, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen“. In Demokratien müssten die Entscheidungen in den Parlamenten getroffen werden, dort liege die Legitimation.
Ihn stimme nachdenklich, wenn Regierungen erst im allerletzten Moment dazu bereit seien, „Besitzstände und Privilegien aufzugeben und Reformen einzuleiten“. Wulff kritisierte, der massive Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB sei rechtlich bedenklich. „Dies kann auf Dauer nicht gut gehen und kann allenfalls übergangsweise toleriert werden.“ Die EZB hatte in den vergangenen Wochen für gut 110 Milliarden Euro wiederholt Anleihen überschuldeter EU-Staaten aufgekauft. Dies soll künftig der europäische Rettungsschirm übernehmen, über dessen Ausweitung der Bundestag im September entscheiden muss.
Mit der Rede meldete sich der Bundespräsident erneut in der Schulden- und Finanzkrise zu Wort – bereits Ende März hatte er auf dem Deutschen Bankentag gewarnt, der Finanzsektor habe nicht aus Fehlern gelernt. Seine aktuelle, ungewöhnlich scharfe Kritik richtet sich auch gegen das Vorgehen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte bereits beklagt, das Parlament könne so weitreichende Entscheidungen nicht im Eiltempo treffen.
Die Diskussion über den richtigen Weg in der Krise ging in der Union unterdessen weiter. Merkel pfiff Arbeitsministerin Ursula von der Leyen zurück, die gefordert hatte, Kredite an verschuldete Länder wie Griechenland nur gegen Sicherheiten wie Gold oder Industriebeteiligungen zu gewähren. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble und Unions-Fraktionschef Volker Kauder erklärten diese Diskussion für beendet. Merkels Besuch in der Unions-Fraktion am Dienstagabend, bei dem sie ihre Europapolitik erklärte, konnte innerparteiliche Zweifler nicht beruhigen – Teilnehmer berichteten von mehreren skeptischen Wortmeldungen.
Merkel bekam zusätzlich Druck von ihrem Vorgänger. Exkanzler Helmut Kohl kritisierte die Linie der schwarz-gelben Koalition. „Deutschland ist keine berechenbare Größe mehr – weder nach innen noch nach außen“, sagte Kohl der Zeitschrift Internationale Politik. Als Beispiel nannte er die Europareise von US-Präsident Barack Obama im Mai. Obama hatte damals mehrere europäische Länder besucht, nicht aber Deutschland. Dass er so etwas einmal erleben müsse, habe er sich nie träumen lassen, sagte Kohl. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles verspielen. Wir müssen dringend zu alter Verlässlichkeit zurückkehren.“ US
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