: Tückische Anklage gegen Aktivistin
Einer Frauenrechtlerin aus Istanbul droht zum zweiten Mal eine langjährige Haftstrafe. Die Beweislage ist dünn, und die Anwälte sprechen von Gesinnungsjustiz. Die Sozialistin prangert seit Jahren die staatlichen Menschenrechtsverletzungen an
AUS ISTANBUL CHRISTIAN JAKOB
Frauen, sagt Çicek Otlu, leiden am meisten, wenn Staaten ihre Gegner verschleppen. Ohne Söhne oder Ehemänner blieben sie zurück, voller Ungewissheit und Existenzangst. Çicek Otlu, Vorsitzende der türkischen „Vereinigung der werktätigen Frauen“ (EKD), streitet seit vielen Jahren für die Angehörigen von „Verschwundenen“. Wenn es schlecht läuft, wird sie heute zum zweiten Mal in ihrem Leben zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Die 34-jährige Türkin ist eine von 24 SozialistInnen, gegen die vor der Staatsschutzkammer in Istanbul-Beșiktaș verhandelt wird. Sechs von ihnen haben im Mai 2006 einen internationalen Kongress gegen staatliches „Verschwindenlassen“ im kurdischen Diyarbakir organisiert, wenige Wochen später wurden sie verhaftet. Den Angeklagten wird die Mitgliedschaft in der verbotenen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) vorgeworfen. Die militante Organisation bekannte sich seit Beginn diesen Jahres zu fünf Bombenschlägen in der Türkei, bei denen Sachschaden entstand. Eine Beteiligung an konkreten MLKP-Aktionen wird in der Anklageschrift keinem der Beschuldigten zur Last gelegt, doch für die Mitgliedschaft drohen ihnen bis zu acht Jahren Haft. Die Beschuldigten bestreiten den Vorwurf.
Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf eine maschinengeschriebene Liste mit 144 Namen. Die Polizei behauptet, die Liste im September 2006 bei einer Großrazzia beschlagnahmt zu haben, bei der über 100 Menschen festgenommen wurden. Die Verhandlungen gegen einen Teil der Angeklagten begannen am 13. April 2007. Zehn von ihnen – darunter Çicek Otlu – wurden im Frühjahr 2007 vorübergehend aus der Untersuchungshaft entlassen, weil keine Verdunklungsgefahr bestand.
Für Otlu ist das alles nicht neu: Während ihrer Studienzeit protestierte sie mit den „Samstagsmüttern“ in Istanbul, nachdem ein linker Journalist verschwunden war. Otlu, damals in einer sozialistischen Jugendorganisation aktiv, beschuldigte öffentlich den Staat, den Journalisten verschleppt zu haben. Sie wurde 1995 verhaftet, man warf ihr die Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation vor. Zehn Jahre blieb sie im Gefängnis.
Nachdem sie 2005 entlassen wurde, beteiligte sie sich an der Organisation des internationalen Kongresses gegen staatliches „Verschwindenlassen“ im Mai 2006. Auf dem Kongress in Diyarbakir hielt sie eine lange Rede gegen die in der Türkei in den Neunzigerjahren verbreitete Praxis, „Terroristen“ zu töten, ohne die Angehörigen darüber zu informieren. Die Polizei filmte alles.
Nun droht ihr erneut eine Haftstrafe. Ihre Anwälte haben erst etwa drei Wochen vor dem ersten Gerichtstermin Akteneinsicht erhalten: „Das war viel zu spät – und rechtswidrig“, sagt Otlus Anwältin Sezin Uçar. „Das Gericht behandelt uns Anwälte, als ob wir selbst Terroristen wären. Der ganze Prozess dient nur dazu, politisch Andersdenkende mundtot zu machen.“ In der Kürze der Zeit sei eine Vorbereitung der Verteidigung nicht möglich gewesen.
Den von der Staatsanwaltschaft präsentierten Beweisen traut Anwältin Uçar nicht: „Eine solche Liste kann jeder schreiben und ausdrucken. Es ist absurd zu glauben, dass eine militante Organisation eine solche Liste führt und herumliegen lässt.“ Uçar verweist darauf, dass der Oberste Gerichtshof einen Angeklagte in einem Fall mit ähnlicher Beweislage kürzlich freigesprochen hat: Einem ehemaligen Marinechef wurden auf Grundlage angeblicher Tagebuchnotizen Planungen für einen Putsch vorgeworfen. „In unserem Fall hält das Gericht das Beweismaterial jedoch für authentisch. Das ist Willkür“, sagt Uçar.
Im Frühjahr haben sich 200 europäische SchriftstellerInnen und PublizistInnen mit Otlu und den anderen Angeklagten solidarisch erklärt. Protestaktionen gegen die Inhaftierungen in den vergangenen Monaten wurden von der Polizei mehrfach gewaltsam aufgelöst. Beim Gerichtstermin im April griff die Polizei eine genehmigte Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude an und verletzte nach Angaben einer deutschen Beobachtergruppe viele der TeilnehmerInnen, zwei davon „schwer bis lebensgefährlich“.