piwik no script img

Archiv-Artikel

Lebenslanges Lernen

JUSTIZ Zehn Jahre nach den Hartz-IV-Reformen können immer mehr Jobcenter-Mitarbeiter die neue Rechtslage richtig anwenden: Es landen weniger Fälle vor Gericht

„Die Klageflut sinkt, aber aus den Wellen ragt der Aktenberg“

SABINE SCHUDOMA, SOZIALGERICHT

VON SEBASTIAN HEISER

In diesem Jahr landen voraussichtlich nur noch rund 23.600 Verfahren an den Sozialgerichten. Das ergibt sich aus der Hochrechnung der Zahlen bis November, die Sozialgerichtspräsidentin Sabine Schudoma am Donnerstag vorlegte. Im Jahr 2011 waren es noch 29.275 Klagen und Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Eilverfahren. „Wir konnten die sogenannten Hartz-IV-Klagen dramatisch reduzieren“, sagte Justizsenator Thomas Heilmann (CDU). Der ausschlaggebende Faktor dabei war: „Wir haben die Bescheide verbessert, das haben ganz wesentlich die Mitarbeiter in den Jobcentern erledigt, bei denen ich mich ausdrücklich bedanke.“

Für eine bessere Arbeit der Jobcenter spricht auch, dass diese vor Gericht inzwischen seltener verlieren. Vor drei Jahren hoben die Richter noch mehr als 50 Prozent der Bescheide auf. Inzwischen ist die Quote der ganz oder teilweise erfolgreichen Klagen auf 45,1 Prozent gesunken. „Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen, um für unsere Kunden besser zu werden“, so Jutta Cordt, Chefin der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit. Den Mitarbeitern sei es „durch gute Arbeit gelungen, Bescheide verständlicher zu gestalten, diese vorab mit den Kunden zu besprechen“. Während vor drei Jahren noch gut 7 Prozent der Hartz-IV-Haushalte gegen das Jobcenter klagten, waren es in diesem Jahr nur noch 5,5 Prozent.

Vor zehn Jahren wurde das Sozialgesetzbuch durch die Hartz-Reformen umstrukturiert: Die Koalition aus SPD und Grünen schaffte die bis dahin existierende Arbeitslosenhilfe ab und ersetzte sie durch das Arbeitslosengeld II. Die Mitarbeiter in den Jobcentern, vorher Arbeitsamt genannt, mussten sich erst in die teilweise völlig neuen Regeln einarbeiten. Hinzu kam dann auch noch, dass diese Regeln sich ständig weiter ändern: „Wir haben innerhalb dieser zehn Jahre über 70 Rechtsänderungen. Dann kann man sich erklären, was die Herausforderung für die Mitarbeiter in den Jobcentern ist“, so Cordt.

Die gleiche Herausforderung stellt sich allerdings auch für die Betroffenen – also die Menschen, die früher Sozialhilfe bekommen haben und jetzt Arbeitslosengeld II. Auch diese Menschen hatten sich in die neue Rechtsgrundlage einzuarbeiten, wenn sie überprüfen wollten, ob alles nach den Vorgaben von Recht und Gesetz passiert. Mit dem Unterschied, dass sie dafür – anders als die Mitarbeiter in den Jobcentern – keine vom Amt finanzierten Schulungen erhielten.

Sozialgerichtspräsidentin Schudoma freut sich darüber, dass die Zahl der Klagen zurückgeht. „Jede Klage weniger verschafft uns Luft, um abzuarbeiten, was sich in zehn Jahren Hartz IV aufgetürmt hat. Die Klageflut sinkt, aber aus den Wellen ragt der Aktenberg.“ Derzeit warten noch 42.000 Bürger auf eine Entscheidung. Wenn das Sozialgericht ab heute keine Klagen mehr annehmen würde, dann bräuchte es ein ganzes Jahr, alle bisher eingegangenen Klagen abzuarbeiten.

Aktuell ein großes Thema beim Sozialgericht sind allerdings noch die Klagen wegen Stromsperren: Hartz-IV-Bezieher verlangen vom Jobcenter ein Darlehen, um eine Absperrung ihres Stromanschlusses noch auf den letzten Drücker zu verhindern. Wenn das Jobcenter ablehnt oder nicht schnell genug entscheidet, ziehen die Hartz-IV-Empfänger vor Gericht. Dies wäre nach Ansicht von Justizsenator Heilmann aber gar nicht nötig. „Es muss niemand eine Stromsperre kriegen, wenn er sich rechtzeitig kümmert.“ Die Stromanbieter dürfen den Strom nur abstellen, wenn die unbezahlten Rechnungen sich auf über 100 Euro summieren. Zudem muss die Absperrung einen Monat vorher angedroht werden.