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Archiv-Artikel

Wenn die Stimme wegbleibt

LEISE Ist das Sprechen anstrengend und die Stimme rau, kann es sich um eine Lähmung des Stimmbands handeln. Laut Experten wie Markus Hess von der Deutschen Stimmklinik in Hamburg leiden in Deutschland rund 10.000 Menschen unter dieser Krankheit. Eine von ihnen ist Natalia Müller

Die Stimme heilen

■ Die private „Deutsche Stimmklinik“ hat im Oktober als bundesweit erste ihrer Art auf dem Gelände des Universitätsklinikums Eppendorf in Hamburg eröffnet.

■ Das Spezialgebiet der Klinik ist die Phoniatrie, also Störungen der Stimme, des Sprechens, der Sprache und den Schluckens. Chirurgen, Stimmtherapeuten und Logopäden sollen hier die Patienten betreuen.

■ Workshops und Vorträge zu unterschiedlichen Spezialthemen wie klassischem Gesang, Musical oder Popmusik werden zudem im Stimmzentrum der Klinik veranstaltet.

■ Kontakt und weitere Informationen gibt es im Internet auf der Seite www.stimmklinik.de.   ETH

VON EVA THÖNE

Im letzten Winter verlor Natalia Müller ihre Stimme: Auf der Straße kam sie bei viel Verkehr nicht mehr gegen den Lärm an. Als sie mit ihrer Bank telefonieren musste, baute ihr Mann ein Sprachrohr aus Pappe, damit sie am Telefon besser zu verstehen war. Bei einem Bewerbungsgespräch blieb ihr die Stimme fast ganz weg. „Ich hatte das Gefühl, nicht richtig zu leben“, sagt die 43-Jährige, die in Hamburg als Verkäuferin arbeitet. Sie hatte keine Schmerzen. Aber sie konnte nicht mehr laut sein, den Ton auf einen Luftzug nicht mehr lange halten, klang immer rau, kraftlos und angestrengt. Und sie hatte Angst, dass sie ihre richtige Stimme nie wieder bekommen würde.

„Viele unterschätzen eine Stimmerkrankung, aber die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird schwierig für jemanden, der plötzlich nur noch krächzen oder nur noch ganz leise sprechen kann“, sagt Markus Hess. Der Mediziner hat sich auf Stimmerkrankungen spezialisiert. Ende Oktober eröffnete er in Hamburg gemeinsam mit einer anderen Ärztin die „Deutsche Stimmklinik“. Hier kümmern sich nun Spezialisten, Stimmtherapeuten und Logopäden um Stimmprobleme aller Art.

Eine Nachbarin empfahl Natalia Müller, sich an die HNO-Station des Universitätsklinikums Eppendorf zu wenden. Dort bekam sie von Hess, der dort bis vor Kurzem als Leiter der Station arbeitete, eine Diagnose, von der sie noch nie zuvor gehört hatte: Müller hatte eine Stimmbandlähmung, eine Recurrensparese, wie Ärzte das nennen. Hess schätzt, dass rund 10.000 Menschen in Deutschland unter dieser Krankheit leiden.

Normalerweise flattern die zwei streichholzgroßen Stimmlippen im Kehlkopf – umgangssprachlich bekannt als Stimmbänder – gegeneinander, wenn wir sprechen. „Die Stimmlippen sind extrem empfindlich“, sagt Markus Hess. „Schon Veränderungen im Submillimeter-Bereich können dazu führen, dass die Stimme heiser und rau wird.“ Bei Natalia Müller bewegte sich die linke Stimmlippe gar nicht mehr und stand weit ab, die rechte kam deshalb nicht mehr an sie heran – eine einseitige Stimmbandlähmung. „Wenn beide Stimmlippen gelähmt sind, ist das Krankheitsbild ganz anders“, sagt Hess. Patienten mit beidseitiger Lähmung haben keine Probleme mit der Stimme, sondern mit dem Atmen, weil sich die Stimmritze zwischen den beiden starren Lippen im Hals verengt.

Vorsorge ist kaum möglich

Starke Erkältungen können eine Stimmbandlähmung auslösen, außerdem Infektionskrankheiten, auch Krebs. Häufig steht in der Diagnose aber das Wort „idiopathisch“. Das bedeutet, dass keine Ursache gefunden werden konnte. „In 80 Prozent der Fälle wissen wir nicht, woran es liegt“, sagt Hess. „Deshalb gibt es auch kaum Vorsorge-Ratschläge. Man kann höchstens darauf achten, sich bei Operationen einen besonders guten Chirurgen zu suchen.“

Bei einem Prozent aller Schilddrüsenoperationen wird der rückläufige Kehlkopfnerv verletzt, der die Spannung der Stimmlippen über den Stimmmuskel steuert. Auch bei Natalia Müller war der Nerv während einer Operation geschädigt worden, bei der ein Knoten in der Schilddrüse entfernt wurde. „Dass der Nerv verletzt wird, liegt dabei nicht automatisch an schlechter OP-Technik“, sagt Hess. Der Nerv, dick wie ein paar Haare, wählt im Körper nicht immer den gleichen Weg, verästelt sich mal früher, mal später. „Selbst wenn sie super operieren und den Nerv über Neuromonitoring kontrollieren, können sie ihn treffen“, sagt Hess. Bei manchen Tumoroperationen müsse der Nerv auch bewusst geopfert werden. Etwa dann, wenn ein Krebs an der Schilddrüse den Nerv ummauert.

Manchmal aktivieren sich gelähmte Stimmlippen nach einer Weile wieder von selbst. „Aber wenn sich eine Lippe ein halbes Jahr nicht bewegt, rutscht die Wahrscheinlichkeit dafür auf weniger als ein Prozent“, sagt Hess. Das sei ein Erfahrungswert. Bei der einseitigen Lähmung kann ein Mikrochirurg dann versuchen, die gelähmte Stimmlippe wieder in die Mitte zu stellen, damit die bewegliche Lippe dagegenklatschen kann. Das geht zum Beispiel, indem die gelähmte Lippe mit einem Filler aufgepolstert wird. Bei dieser sogenannten Augmentation spritzt Hess etwa Hyaluronsäure in die gelähmte Lippe, die Stimme wird sofort besser. Weil der Körper die Filler aber nach und nach wieder abbaut, ist nach einiger Zeit ein erneuter Eingriff nötig.

Auch bei Müller wurde die linke Stimmlippe unterfüttert. „Meine Stimme war sofort wieder da“, erinnert sie sich. „Das war ein Gefühl, als habe mir jemand ein zweites Leben geschenkt.“ Aber vier Monate nach dem Eingriff wurde die Stimme wieder leiser. Bei der Arbeit im Supermarkt wünschten ihr Kunden „gute Besserung“, weil sie so heiser klang.

Im September dann setzte ihr Markus Hess deshalb ein Silikonimplantat ein, das die Kontur der gelähmten Stimmlippe nachbildet – und Jahrzehnte hält. Wer wie Natalia Müller bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, muss die Kostenübernahme bei der Unterfütterung als Einzelfallentscheidung beantragen. Das Einsetzen eines permanenten Implantats wird als stationäre Leistung durch gesetzliche und private Krankenkassen bezahlt.

Eine andere Behandlungsmethode, die bei Stimmbandlähmung helfen kann, ist die Elektrostimulationstherapie. Mit jedem Sprechimpuls wird dabei eine Mini-Dosis Strom durch den Kehlkopf geleitet. „Das merkt der Patient schon, aber schmerzhaft ist es nicht“, sagt Hess. Die Therapie soll den Stimmmuskel zu einer Kontraktion zwingen. Dieser soll dann wieder funktionieren, sobald der rückläufige Kehlkopfnerv oder ein anderer Nerv die Stimmlippen wieder versorgen kann. Und um die beidseitige Stimmbandlähmung zu behandeln, arbeiten Mediziner im Moment an einem Kehlkopfschrittmacher, der den Patienten implantiert werden kann. Mit jedem Impuls, den das kleine Gerät gibt, gehen die Stimmlippen auseinander, die Atmung wird so verbessert.

Für Sänger ist es das Aus

„Mein Therapieziel ist immer, dem Patienten wieder eine Sprechstimme herzustellen, wie man sie aus dem Alltag kennt“, sagt Markus Hess über die Behandlung der einseitigen Stimmbandlähmung. „Aber eine Stimme im High-End-Bereich geht nicht. Wenn es einen Berufssänger erwischt, ist die Karriere vorbei.“

Müllers Stimme klingt noch immer ein bisschen rau, das liegt aber vor allem daran, dass sie heute einen langen Arbeitstag voller Kundengespräche hatte. „Ich habe 90 Prozent meines Volumens wieder“, schätzt sie selbst. Nur eine Narbe, versteckt in einer Halsfalte, bleibt als Erinnerung an das Implantat. Müller hofft, dass auch die in einem Jahr verheilt sein wird.