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Archiv-Artikel

„Wir bieten Kindern Zukunft“

MUSIKTHEATER Christian Grammel, Recha La Dous und Julia Rommel, aktuelle Autorenpreisträger der Schwankhalle, stellen am Wochenende ihr Projekt „Altus“ vor

Christian Grammel

■ 33, hat am Mozarteum Salzburg, an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Hochschule für Musik und Darstellende Künste Hamburg studiert und ist einer der drei Geschäftsführer von Altus.

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Grammel, wieso gehen Sie mit Ihrem opernnahen Projekt in die Schwankhalle?

Christian Grammel: Für uns ist die Schwankhalle vom Flair her genau richtig. Wir sehen sie als Location, die ein junges, kulturell aufgeschlossenes Publikum anziehen kann, das sich von Oper oft ausgeschlossen fühlt.

Dabei atmet Ihr Projekt aber einen barocken Geist, der weder zur Schwankalle noch nach Bremen recht passt.

Bremen ist keine barocke Stadt, das stimmt. Und selbstverständlich müssen wir eines Tages die großen Festivals ansteuern, Salzburg oder Aix-en-Provence. Aber momentan stehen wir noch ganz im Anfang. Und Bremen hat eine Qualität, die uns dafür günstig scheint: Bremen verfügt über die Offenheit, sich auf Neues einzulassen und hat eine große mäzenatische Tradition. Deshalb rechnen wir uns gerade durch unser Fair-Trade-Konzept gute Chancen aus.

Es geht um Kastraten, also Stimmen, die wichtig waren für den Barock, die es aber heute nicht mehr gibt …?

Ganz genau. Das Verrückte ist ja: Wir haben da alle so unsere mehr oder minder konkreten Vorstellung, aber keiner hat je eine voll entwickelte Kastratenstimme gehört: Auch jetzt am Samstag können wir nur einen kleinen Vorgeschmack ermöglichen. Dieser imaginäre Klang, seine Ausstrahlung, die treibt uns um. Denn es ist schon tragisch, dass wir nicht wissen, wie Barockmusik eigentlich klingen müsste. Wir kennen nur das Surrogat: Man besetzt den Part mit Countertenor oder gar Frauenstimme, aber der historisch-korrekte Klang bleibt auf der Strecke.

Sie sehen sich also in der Tradition der historischen Aufführungspraxis, die den Originalklang rekonstruiert hat – bis auf den entscheidenden Part, nämlich die Stimme?

Das ist absolut unsere Meinung. Wir wissen mittlerweile sehr viel über die Klangvorstellungen des Barock. Es werden Originalinstrumente gespielt oder exakte Nachbauten, man weiß, welche dynamischen Effekte sich durch die archaische Form des Bogens ergeben, und keiner will mehr auf den Sound der unumsponnenen Darmsaite verzichten. Aber der Schlussstein, die Stimme, die fehlt.

Könnte man nicht den Klang elektronisch simulieren?

Könnte man, aber abgesehen davon, dass das am Ende wohl nicht über jeden Zweifel erhaben wäre – für mich wäre das schon ein Stück weit pervers: Bei Alter Musik geht es um die innige Verschmelzung von Körper, Stimme und Emotion – auch für das Publikum. Das kann eine Apparatur nicht leisten.

Sie bezeichnen das zu erwartende Klangbild als Ruf der Engel, „The Angel’s Cry“. Knüpfen Sie damit gezielt an die für den Kastratendiskurs wichtige theologische Vorstellung der Geschlechtslosigkeit von Engeln an, oder ist das nur ein Spruch?

Nein, den Titel „The Angel’s Cry“ haben wir in Anlehnung an das bahnbrechende Werk Michel Poizats ausgesucht ...

eine Geschichte der Oper als Geschichte der Stimmen.

Genau. Das war für uns der entscheidende Anstoß. Dass sich der Titel gut vermarkten lässt, kommt uns beim Aufbau des Unternehmens sehr zupass.

Aber wie soll die entstehende Altus gGmbH an echte Kastraten kommen? Ihr Prospekt erwähnt moldawische Waisen.

Richtig.

Sie meinen das ernst?

Das Projekt hat zwei Standbeine. Das eine ist das künstlerische Ziel, diese verlorene Stimme wiederzugewinnen, wieder zu etablieren. Das ist der ästhetische Gewinn. Das andere, und das ist uns genauso wichtig, das ist die Charity-Dimension, die humanitäre Aktion. Moldawische Waisenkinder leben in einer für uns schwer vorstellbaren Verelendung. Es fehlt an allem, es gibt kein staatliches Hilfesystem, keine Regelungen, kein soziales Netz und keine Chancen des sozialen Aufstiegs. Oft handelt es sich um Sozialwaisen, also von ihren Eltern ausgesetzte Kinder.

Was heißt oft?

Wir sprechen da von 250.000 Sozialwaisen bei nur knapp vier Millionen Einwohnern. Da herrscht in Teilen völlige Rechtlosigkeit.

Und Sie nutzen das aus?

Wir bieten den Kindern eine Zukunfts-Chance durch eine Ausbildung.

Ein Risiko dabei ist, dass unklar ist, wie sich die Stimme entwickelt.

Dafür haben wir gemeinsam mit Gesangspädagogen und Musikwissenschaftlern ein umfassendes Programm entwickelt: Im Alter von fünf Jahren bekommen die Kinder ersten Gesangsunterricht, zugleich gibt es einen großen Chor, der die Jungen drei Jahre lang begleitet, ganz ohne jeden Druck. Dann gibt es ein Auswahlprogramm – Casting, wie man heute sagen würde. Und da gucken wir, wer gesanglich, aber auch psychologisch über die entsprechenden Anlagen verfügt, um eine längere und intensivere Ausbildung durchzuhalten.

Und wissen die, worauf sie sich einlassen?

Das wird den Knaben von Anfang an klar kommuniziert. Wir wollen nichts verheimlichen, und teilweise erleben sie den Werdegang ja an ihren Vorgängern mit: Die nächste Stufe ist eine Talentklasse, in der die Jungs schon medikamentös behandelt werden, und pro Jahrgang erhalten drei bis fünf junge Männer schließlich ein Vollstipendium für ein Hochschulstudium.

Medikamentös heißt: Es wird nicht operiert?

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das ansprechen: Man hat da tatsächlich schnell ganz falsche Bilder im Kopf. Durch die Operationen lief das in der Barockzeit vollkommen unkontrolliert ab, viele der Jungen sind schlicht verblutet. So etwas wird es mit uns nicht geben. Wir halten die Pubertät sanft und gezielt mit Hormonpräparaten auf, damit der Knabensopran erhalten bleibt, während das restliche Wachstum behutsam geführt und geleitet weiter abläuft. Sollte der erwachsene Künstler dann irgendwann seine Karriere beenden und sich anderen Dingen zuwenden wollen, kann er durch ein schrittweises Absetzen der Behandlung das nachholen, was wir aufgeschoben haben.

■ Samstag & Sonntag, 20 Uhr, Schwankhalle