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Archiv-Artikel

Freiraum für die Flut

WASSERSTAND

Regen in Deutschland: Am Wochenende hat es die Stadt Ribnitz-Damgarten in Mecklenburg-Vorpommern erwischt. Um kurz nach 22 Uhr hatte es Samstag angefangen zu schütten. Innerhalb von 24 Stunden fielen 80 Liter Regen pro Quadratmeter. Die Kanalisation konnte die Wassermassen nicht aufnehmen, die Kanaldeckel wurden aus den Fassungen gedrückt, Keller liefen voll. In Ostholstein sah es nicht anders aus. Vor allem auf der Insel Fehmarn und in der Lübecker Bucht war die Feuerwehr im Einsatz.

In den vergangenen Tagen fiel der Regen bundesweit gewaltig. Im Sauerland lief die Möhnetalsperre über – seit 20 Jahren zum ersten Mal. Derweil entspannte sich die Lage am Rhein: Der Flusspegel ging zurück, Schiffe durften wieder fahren. In den Schweizer Überschwemmungsgebieten haben die Unwetter einen Schaden von 120 Millionen Euro angerichtet.

„Das Hochwasserrisiko in Deutschland wird sich verzehnfachen“, warnte unterdessen Michael Müller, SPD-Staatssekretär im Umweltministerium. Schon in wenigen Jahrzehnten werde es im Winter etwa 40 Prozent mehr Regen geben. Das Kanalnetz würde dann stärker belastet. Der Städte- und Gemeindebund fordert seit langem, das Abwassersystem zu erneuern. Sprecher Franz-Reinhard Habbel sagte der taz, dass „bundesweit 120 Milliarden Euro investiert werden müssen“. Die Rohre seien verunreinigt, renovierungsbedürftig und vor allem zu klein. HG, DPA

AUS DESSAU NICK REIMER

Fünf Jahre nach der Flut an Elbe und Mulde sieht der Hochwasserschutz so aus: viel Beton, wenig Natur. 7,8 Milliarden Euro haben Bund und Länder seit der großen Überschwemmung im August 2002 für Hochwasserschutzprogramme an der Elbe zur Verfügung gestellt. „Die Verwendung der Mittel wird aber erst einmal dazu führen, dass die Schäden bei der nächsten Flut weiter flussabwärts anfallen“, sagt Georg Rast, Hochwasserexperte beim World Wide Fund for Nature (WWF). Verantwortlich dafür ist nicht unbedingt fehlender politischer Wille, sondern „der Teufel im Detail“, wie Peter Noack es nennt. Er ist beim Landesbetrieb für Hochwasserschutz in Sachsen-Anhalt für den Deichbau zuständig und kennt die Probleme vor Ort. In der Sprache der Bürokratie sind das „Fragen des Natur- und Denkmalschutzes, der Archäologie, der Altlastensanierung oder Eigentumsfragen“. Meist sind es aber einfach – die Anwohner.

Auwälder gegen die Flut

Beispiel Lödderitzer Auenwald. Das Gebiet bei Dessau ist Teil eines der ältesten deutschen Biosphärenreservate. Hier will der WWF den alten, sieben Kilometer langen Deich um 500 Meter zurückverlegen und so 600 Hektar Überschwemmungsfläche neu entstehen lassen. „Das senkt den Scheitel eines Hochwassers um 25 Zentimeter, weil sich der Fluss auf einer neuen Breite ausdehnen kann“, sagt Astrid Eichhorn, Leiterin des ersten Projekts dieser Art in Deutschland.

Der alte Damm soll abgerissen werden. Dann könnten die Hochwasser der Elbe die Auenwälder mit ihren 250 Jahre alten Eichen- und Ulmenbeständen wieder ganz natürlich überfluten, die Bäume erhalten eine neue Lebensgrundlage. „Für den Klimaschutz ist der Auenwald der Regenwald Europas“, sagt Eichhorn. Die Fauna in dem komplexen Ökosystem speichert besonders viel Kohlendioxid. Das spricht unter anderem deshalb für die Auenwälder, weil der Klimawandel dazu führen wird, dass Fluten häufiger und heftiger werden. Vor allem aber verringert die Ausweitung der natürlichen Überflutungsfläche die Hochwassergefahr flussabwärts.

Urangst vor dem Fluss

Trotzdem geht es in Lödderitz nur schleppend voran. Sogar eine Bürgerinitiative gegen die Deichverlegung hat sich gegründet. „Das ist eine Urangst“, sagt Eichhorn. Weil das Wasser mit den neuen Deichen näher an die Orte herankommt, fühlen sich die Bewohner auch direkter von möglichen Hochwassern bedroht. „Wenn der Damm vor der Haustür ist, denken sie, bei der nächsten Flut schwimmt ihr Bett weg.“ In Bürgerversammlungen versuchen die Umweltexperten den Anwohnern diese Angst zu nehmen. Aber es scheint fast unmöglich. Denn natürlich gibt es keinen absolut sicheren Deich.

Eine Studie des Landes hat ergeben, dass die Elbe allein in Sachsen-Anhalt 800 Hektar mehr Raum bekäme, wenn man die Deiche nach hinten verlagern würde. WWF-Expertin Eichhorn hält sogar „viel mehr“ für möglich. In den vergangenen fünf Jahren sind jedoch nur zwei Projekte ausgeführt wurden: Eines brachte 20, ein weiteres 140 Hektar Überschwemmungsfläche.

Das war in Roßlau, einer inzwischen mit Dessau zusammengelegten Stadt von 15.000 Einwohnern. Dort wurde der Deich gleich mehrere Kilometer zurückverlegt. „Wir können mit Stolz sagen, das größte Rückbauprogramm an einem deutschen Fluss in den letzten Jahrzehnten realisiert zu haben“, sagt Oberbürgermeister Klemens Koschig (parteilos).

Deiche im Hinterland

Ganz so einfach ging das aber auch hier nicht. Ein Enteignungsverfahren musste gewonnen und vier Bauern überzeugt werden, dass es sinnvoll ist, ihr fruchtbares Land aufzugeben. „Der Bürgermeister hat sehr überzeugend argumentiert“, sagt Heinz Vierenklee, Geschäftsführer des Bauernverbandes Anhalt. Außerdem habe der Staat Ausgleichsflächen angeboten, „ohne die die Bauern garantiert nicht zur Aufgabe ihrer Flächen bereit gewesen wären“.

Was bringen 140 Hektar mehr Flutungsraum im Ernstfall? „Nicht viel“, sagt der oberste Deichbauer des Landes, Peter Noack. „Der Scheitel eines Hochwassers wird ganz kurz um wenige Zentimeter gesenkt.“ Aber die Aufgabe, den Flüssen wieder mehr Raum zu geben, gleiche einem Puzzle-Spiel, bei dem man sich Stein für Stein zusammensuchen muss. Das dauert: „Man kann einen Siedlungsraum, der in hunderten von Jahren gewachsen ist, nicht binnen weniger Jahre umbauen.“

Vor allem, wenn man die früheren Fehler nach der Flut vielerorts einfach wiederholt. Beispiel Waldersee, ein Ortsteil von Dessau-Roßlau, wo ein Kreuz und ein Gedenkstein erinnern: „Hier brach am 18. August 2002 um 11.15 der Deich“. Binnen kürzester Zeit war Waldersee damals überschwemmt. 90 Prozent aller Häuser versanken in den Fluten, die Schäden summierten sich auf 200 Millionen Euro.

Fünf Jahre später ist der Deich repariert – und an derselben Stelle geblieben, obwohl bis zur Siedlung gut 5 Kilometer Luftlinie liegen, also viel Platz für Auffangflächen gewesen wäre. Immerhin: „Anstelle des alten, morschen Dammes steht jetzt hier ein DIN-genormter“, sagt Noack. Dabei betont er das „DIN-genormt“, was so viel wie „besonders sicher“ ausdrücken soll. Tatsächlich ist der neue Damm nun auch 3 Meter breiter und 1 Meter höher. Man kommt der Natur nicht entgegen, sondern begegnet ihr mit Technik. Die hohen Deiche stauen bei einer Flut das Wasser auf, so dass die Massen flussabwärts mit umso mehr Druck ankommen.

Schrecken vergessen

Dass das kein Sonderfall ist, zeigt die WWF-Analyse zum Einsatz der Hochwasser-Milliarden. „Das Ergebnis ist ernüchternd“, sagt WWF-Fachmann Rast. Zum überwiegenden Teil wurde in den so genannten technischen Hochwasserschutz investiert.

Zuweilen hat das ganz abstruse Formen. So hat Brandenburg seine Deichbemessungsgrenze um 70 Zentimeter erhöht. Wo die Elbe Grenzfluss zu Sachsen-Anhalt oder Niedersachsen ist, werden jetzt also die Deiche auf der Brandenburger Seite höher gebaut als auf der gegenüberliegenden Seite. Im Katastrophenfall ist klar, wohin das Wasser fließt. In vorbeugenden Hochwasserschutz hingegen wird nur wenig investiert: „Würden alle Projekte umgesetzt, die bislang erdacht worden, bekäme die Elbe gerade einmal 1 Prozent ihres ursprünglichen Überschwemmungsgebietes zurück“, sagt Rast.

Es scheint, als hätten auch die Anwohner die Schrecken von einst vergessen. In Waldersee sind zwar mittlerweile nahezu alle Ölheizungen durch Gasbefeuerungen ersetzt. 2002 spülte die Flut die Tanks aus den Kellern, zottelte diese durch den Ort, bis sie leckten und ausliefen. Geschlagene vier Wochen brauchten die Feuerwehren, um die Ölpest zu beseitigen. „Allerdings werden neue Häuser schon wieder ohne Hochwasservorsorge gebaut“, sagt der grüne Stadtrat Stefan Giese-Rehm. So würden Neubauten ebenerdig statt über einem hochgezogenen Keller errichtet. „Die Verantwortlichen weisen nicht so gern auf die Hochwassergefahr hin“, sagt Giese-Rehm. Sie fürchteten, dass ein potenzieller Interessent es sich anders überlegt und eben nicht nach Waldersee zieht. „Der Bürgermeister braucht hier aber jeden Steuerzahler.“

Wasser im Bauhaus

Dabei ist die Überschwemmungsgefahr in Dessau längst noch nicht gebannt. 54 Kilometer Deich sollen die Bauhaus-Stadt künftig gegen Fluten aus Elbe oder Mulde schützen – erst 60 Prozent davon sind ertüchtigt. Zwar hielten die Deiche beim letzten großen Hochwasser 2006. Aber das war im Vergleich zur Flut von 2002 auch nur ein Hochwässerchen.

Klimatologen warnen davor, dass der Klimawandel zu mehr und vor allem stärkeren Hochwassern führen wird. Die gefährdeten Gemeinden sollen sich darauf einstellen, fordern Bundesumweltministerium und Experten gleichermaßen. Der Bund jedoch hat nur ein Rahmengesetz auf den Weg gebracht. Hochwasserschutz ist nämlich Ländersache. Auf der Habenseite steht in Sachsen-Anhalt immerhin, das viele Deiche DIN-konform sind. Und dass der Kampf gegen Hochwasser jetzt von einer Zentrale gesteuert wird – im Ernstfall.