„Normale sind schwer zu prognostizieren“

VERBRECHEN Der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber ist einer der wichtigsten Gerichtsgutachter. Ein Gespräch über das Böse, Breivik, Broder und die Würde des Täters

■ Person: Geboren 1951 in Bielefeld. Verheiratet, drei Kinder

■ Beruf: Forensischer Psychiater, Charité in Berlin

■ Herkunft: Wuchs in Bielefeld-Bethel auf, wo sein Vater Chefarzt an den v. Bodelschwinghschen Anstalten war. Während seines Studiums betätigte er sich aktiv im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW)

■ Gutachter: Unter anderem Berater des Vatikan zum Thema Pädophilie und als Gutachter im Fall Kachelmann. Im Auftrag des Justizministeriums Baden-Württemberg sollte er Christian Klar begutachten. Dieser jedoch lehnte eine Begutachtung ab.

INTERVIEW ALEM GRABOVAC

taz: Herr Kröber, im Zusammenhang mit den grausamen Taten von Anders Behring Breivik fällt oft die Bezeichnung „des Bösen“. Ist Breivik das Böse? Gibt es das Böse überhaupt?

Hans-Ludwig Kröber: Im Rahmen eines Gutachtens taucht diese Frage nicht auf. Da geht es darum, ob jemand gesund oder psychisch gestört ist. Das „Böse“ ist eine moralische Bewertung. Es gibt unzweifelhaft böse Taten. Menschen entschließen sich in bestimmten Situationen zu ganz schlimmen Dingen. Bei Breivik muss man abwarten, was er den Psychiatern in Norwegen erzählt. Ich bin sehr erstaunt darüber, wie viele Leute jetzt schon wissen, ob er nun verrückt ist oder nicht.

Sein Verteidiger hält ihn für psychisch gestört und somit schuldunfähig.

Ja, das kann sein. Es gibt ganz geordnete Schizophrene, Wahnkranke, die ihr Wahnsystem schriftlich auf mehreren hundert Seiten darlegen. Ich halte das nicht für entschieden. Ich glaube nicht, dass jemand aufgrund eines geordneten Handlungsablaufs und einer sehr sorgfältigen Planung gesund sein muss. Das ist sogar völlig falsch. Wir haben bei schizophrenen Tätern, die eindeutig psychotisch sind, teilweise extrem sorgfältig ausgeklügelte Tatpläne. Gerade bei Schizophrenen ist die Tatsache, dass sie geordnet und mit sehr langem Atem vorgehen, überhaupt keine Widerlegung der Tatsache, dass sie psychisch schwerst gestört sind.

Als Motiv für die Anschläge gab Breivik an, Norwegen gegen den Islam und den Kulturmarxismus verteidigen zu müssen. Einige Kommentatoren haben nun Islamkritiker wie Broder oder Sarrazin als geistige Brandstifter dieser Tat bezeichnet.

Das ist Unsinn. Das Anschauen eines „Quelle“-Kataloges mit Kindermoden macht einen doch auch nicht gleich pädophil. Die Kriminologie und die forensische Psychiatrie lehrt einen, dass zwischen Auffassungen, Gedanken, Ideen und Einstellungen einerseits und Taten andererseits ein sehr langer Weg liegt. Menschen leben mit jeder Menge Feindbildern. Es gibt auch eine Feindseligkeit gegen Bayern München, aber deswegen schmeißen sie nicht gleich eine Bombe. Einen Einzeltäter kann man aus psychiatrischer Sicht nicht linear aus einer Ideologie ableiten, da müssen ganz andere Störungen, Probleme oder Rachegelüste eine Rolle spielen. Auch ein Täter verabschiedet sich ja von seinem Leben, und das macht keiner, weil er Henryk M. Broder gelesen hat.

Aber wie war es dann mit der RAF? Gab es damals nicht ein geistiges Klima, das den gewaltsamen Kampf gegen den Kapitalismus legitimierte?

Auch die angeblich linken geistigen Brandstifter wie zum Beispiel Enzensberger haben nicht zum Morden geführt. Die RAF war isoliert, war sektiererisch. Die große Mehrheit der Linken war unangenehm berührt von der RAF und hat sie als enorm schädlich empfunden. Niemand ist wegen Enzensberger in die RAF eingetreten.

Kommen wir nun auf Ihre Arbeit als Gutachter zu sprechen.

Wenn ich da zum Beispiel Ihr Aufnahmegerät sehe, muss ich an einen Mörder denken, der seine Tat auf Band aufgenommen hat. Er hat jemanden umgebracht, wollte sich später die Tötungsszene nochmals anhören. Dabei hat er sogar noch die Kassette gewechselt.

Was fragen Sie dann solch einen Mörder? Haben Sie eine spezielle Gesprächstechnik?

Nein, das Entscheidende ist, dass man schon möglichst viel vorher weiß. Man muss durch das Aktenstudium gut vorbereitet sein. Wenn ich dann zu einem Täter komme und dieser merkt, dass ich mich ausgiebig mit seinem Leben und seiner Tat beschäftigt habe, führt das im Regelfall dazu, dass er sich ernst genommen fühlt und seine Sichtweise erzählt.

Wie erkennen Sie, ob jemand lügt?

Na ja, alle lügen. Lügen ist im Strafrecht erst einmal die Basis. Man möchte Sachen schöner darstellen. Aber manche haben nach der Tat auch das Bedürfnis, reinen Tisch zu machen und sich auszusprechen. Je mehr ich weiß, desto schwerer fällt das Lügen. Wenn ich die Fakten, die Zeugenaussagen, Zeitschienen, örtlichen Begebenheiten, familiären Hintergründe und Indizien genau kenne, kann ich demjenigen verdeutlichen, dass Lügen bei mir wenig hilft.

Die objektiven Fakten sind das eine. Aber wie viel Bauchgefühl brauchen Sie, um an den Täter heranzukommen?

Das hat viel damit zu tun, wie man mit dem Beschuldigten klarkommt. Haben sich da die zwei richtigen gefunden oder ist das Gespräch von vornherein vergiftet. Das ist auch eine Frage der Sympathie.

Kann man einen Mörder mögen?

Ja, im Sinne von basalem Respekt. Das passiert unentwegt. Das passiert auch jedem Anwalt, jedem Richter, jedem Staatsanwalt. Aber das ist auch kein Problem. Ich muss herausfinden, was ihn dazu bewegt hat. Ich muss neugierig auf solche Personen sein. Ich habe ein Klärungsinteresse. Ich wundere mich immer wieder über Leserbriefschreiber, die genau wissen, was für ein Arschloch der Täter sein muss und um wie viel besser sie als Menschen doch sind. Auch ein Täter hat ein Recht auf Würde. Man kann einen Täter erklären und verstehen, ohne damit seine Tat zu rechtfertigen. Und das ist mein Job. Ich löse Rätsel.

Aber Sie lösen Rätsel aufgrund von Wahrscheinlichkeiten – keine Angst vor Fehlurteilen?

Es kann schon passieren, dass man jemanden als voll schuldfähig erklärt, der in Wirklichkeit relevante psychische Störungen hatte, die in der Gutachtersituation so jedoch nicht aufgefallen sind. Dann ist er ins Gefängnis statt in die Psychiatrie gekommen. Aber ein großer Schaden ist damit nicht angerichtet.

Aber wenn Sie eine positive Prognose abgeben und dieser Mensch wird dann doch wieder rückfällig.

Die Prognosebegutachtung ist der Ernstfall. Da lassen sich Fehler meist nicht korrigieren. Da muss man sich dann fragen, ob man bei der Begutachtung alles richtig gemacht hat. Haben die Fakten zum damaligen Zeitpunkt dafür gesprochen, dass dieser Mensch kein Verbrechen mehr begeht.

Hatten Sie Fehlurteile?

„Man wird das Verbrechen nicht ausrotten können, man wird auch das Böse nicht ausrotten können“

Es gab Fälle, wo Leute wieder straffällig geworden sind. Vor kurzer Zeit hat zum Beispiel ein psychisch völlig normaler Räuber, der sich jahrelang bestens führte und nach seiner Entlassung einen guten Job hatte, dennoch bald wieder eine Bank überfallen. Gerade die psychisch ganz Normalen sind schwer zu prognostizieren.

Haben Sie sich auch einmal bei einem Pädophilen geirrt?

Kindesmissbraucher haben befristete Freiheitsstrafen. Raus kommen sie auf jeden Fall, aber welche Vorgaben kann man unterbreiten, damit sie nicht wieder rückfällig werden; da kann ein Gutachten Vorschläge machen. Solange die Leute wissen, dass sie kontrolliert werden, können sie sich zurückhalten. Gefährlich wird es immer dann, wenn die Auflagen nicht strikt eingehalten und sie zu den Akten gelegt werden. Aber bislang hatte ich Glück. Es gab noch kein schwerwiegendes Fehlurteil von mir.

Lehnen Sie manche Fälle ab?

Eine Mutter, die ihre drei Kinder umgebracht hat und selbst überlebte, habe ich einmal abgelehnt. Ich wollte mich damals einfach nicht mit dieser Tragödie auseinandersetzen.

Können Sie mir einen Fall schildern, der Sie besonders berührt hat?

Ach, das sind viele. Da war zum Beispiel dieser Mord in Mecklenburg, wo zwei Jugendliche aus einem kleinen Dorf in das Nachbarhaus eingedrungen sind und die Eltern eines Jungen umgebracht haben, den sie kannten. Einen der 17-jährigen Täter habe ich begutachtet. An den ranzukommen und die wirklichen Beweggründe herauszufinden war nicht einfach. Er wollte letztendlich einfach wissen, wie das ist, wie sich das anfühlt, jemanden zu töten. Ein anderer Fall war die Mutter von Jessica, die gemeinsam mit ihren Lebensgefährten in Hamburg ihre siebenjährige Tochter über einen Zeitraum von zwei Jahren hat verhungern lassen. Die wussten genau, was sie taten. Die haben ganz gemütlich gegessen, während Jessica im Nebenzimmer verhungerte. Sie hat ihr eigenes Kind in aller Seelenruhe sadistisch gequält. Nach außen hin haben sie die glückliche Familie gespielt. Und wenn jemand gefragt hat, wo Jessica ist, war sie eben in der Schule oder bei Freunden. Ich habe viel mit dieser Frau gesprochen und nach einer Störung gesucht. Aber das Fatale war, dass sie eine ganz normale, etwas unterkühlte Hamburgerin war. Ich habe sie als voll schuldfähig beurteilt.

Sie haben drei Kinder. Sind Sie berufsbedingt ein ängstlicher Vater geworden?

Nein, da ich genau weiß, dass das Risiko, in Deutschland einem Mörder oder einem Pädophilen zu begegnen, sehr gering ist. Natürlich habe ich meinen Kindern erzählt, dass sie nicht mit fremden Männern irgendwohin mitgehen und keine Geschenke annehmen dürfen. Und ich habe auch nachgefragt, ob im Sportverein der Trainer zusammen mit ihnen duscht. Aber das ist doch alles normal. Das sollte jeder so machen.

Hat die Arbeit mit Mördern und Pädophilen Ihr Menschenbild verändert?

Jeder Mensch entwickelt und verändert sich in seinem Leben. Ich weiß nicht, ob das unbedingt mit meiner Arbeit zu tun hat. Aber ich denke, dass ich inzwischen nicht mehr an die Machbarkeit und Beherrschung aller Dinge glaube. Shit happens. Es gibt Katastrophen und Unglücke, und keiner kann dem entkommen. Niemand konnte vorhersagen, dass Breivik genau an diesem Tag und an diesem Ort zum Massenmörder wird. Da steht man hilflos davor. Man wird das Verbrechen nicht ausrotten können, man wird auch das Böse nicht ausrotten können.

Ihr letzter prominenter Fall war der Kachelmann-Prozess. Wen haben Sie dort begutachtet?

Ich sollte im Auftrag des Gerichts überprüfen, ob die Nebenklägerin Claudia D. imstande ist, eine angemessene Zeugenaussage zu machen, oder ob sie das nicht kann, weil sie posttraumatisch gestört ist. Tatsächlich war sie psychisch gesund. Es gab in ihrer Aussage auch gar keine Lücken oder verworrenen Stellen, aber klare Angaben, die nicht mit der Spurenlage vereinbar waren. Ihr Therapeut hat das durch den Hinweis auf eine posttraumatische Störung zu entkräften versucht. Da das Verfahren jedoch noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, darf ich Ihnen im Augenblick nichts Weiteres zu diesem Fall erzählen.

Wie sehr beeinflusst der Druck und die Vorverurteilungen der Medien solch einen Prozess?

Mich persönlich hat das nicht beeinflusst. Ich schaue kein Fernsehen und habe, bevor ich als Gutachter angefragt wurde, den Fall nur oberflächlich verfolgt. Ich war sehr offen, war in keiner Weise festgelegt. Mich erreicht dieser mediale Druck einfach nicht. Gut, irgendeine Frau vom Spiegel hat geschrieben, dass ich mit meinem orangefarbenen Fleecepulli, meinem Rucksack und meinem iPod in den Ohren die komischste Gestalt in diesem ganzen Prozess gewesen sei. Dabei habe ich in meinem ganzen Leben noch kein orangefarbenen Fleecepulli besessen und gehe stets mit Jackett ins Gericht. Das sind dann solche Lächerlichkeiten, woran man merkt, was für ein Scheiß geschrieben wird.

Sie schauen also kein Fernsehen. Aber lesen Sie trotz Ihrer Arbeit noch Kriminalromane?

„Na ja, alle lügen. Lügen ist im Strafrecht erst einmal die Basis. Man möchte Sachen schöner darstellen“

Nein, ich fürchte und grusele mich viel zu sehr beim Krimilesen (lacht). Aber ich lese gern die Klassiker der Literaturgeschichte und aktuelle Romane.

Sie haben ja auch einen Aufsatz über Dostojewskis Protagonisten Raskolnikow aus dem Roman „Schuld und Sühne“ geschrieben. Raskolnikow wollte den perfekten Mord begehen. War er nun geistig gestört oder voll schuldfähig?

Er war voll verantwortlich für seine Tat. Obwohl Dostojewski das ja infrage stellt durch Raskolnikows schwierige Persönlichkeit, auch seine aktuellen Störungen wie die mehrtägigen Fieberanfälle. Das war eine Fallstudie anhand eines fiktionalen Verbrechens. Und ja, Raskolinikow war voll schuldfähig!

Wie stehen Sie zu den Thesen einiger Gehirnforscher, die im Verbrechen eine genetische Störung im Gehirn sehen?

Gewiss gibt es genetische Rahmenbedingungen: Wir sind entweder männlich oder weiblich, temperamentvoll oder etwas schüchterner. Ebenfalls kann man nicht beliebig intelligent sein. Doch innerhalb dieser Rahmenbedingungen gibt es die Freiheit, sich zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, dass diese Determinismusvorstellung gefährlich und falsch ist. Man muss weiterdenken. Wenn es keine Freiheit des Einzelnen gibt, sind auch soziale Freiheiten eine völlige Illusion. Dann würden Jurys, Gerichte und Entscheidungskörperschaften, die eine Tat nach ihren moralischen und sozialen Gesichtspunkten beurteilen, durch eine Diktatur der Naturwissenschaftler ersetzt werden. Aber Strafprozesse sind eine soziale Handlung. Da geht es um die Wiederherstellung des Rechtsfriedens, um den Ausgleich zwischen Geschädigten, das ist eine Frage der sozialen Intervention. Alles andere wäre eine Expertendiktatur, die zu einem rein technischen und totalitären Überwachungsstaat führen würde, wie ihn George Orwell in seinem Roman „1984“ dargestellt hat.

Glauben Sie an das Gute im Menschen?

Ja, da ich glaube, dass es für jeden Menschen besser ist, prosozial zu handeln. Man fährt einfach besser damit, wenn man die Menschen mit Würde und Anstand behandelt.

Und glauben Sie an Gott?

Ich habe nach wie vor eine Wertschätzung für den Geist des Christentums. Damit meine ich, dass wir uns nicht als Götter aufspielen und uns zu unseren Schwächen als Menschen bekennen dürfen. Wir sind auf Glück, auf Verzeihung und Gnade angewiesen. Mich gruselt es davor, wenn mir jemand einen erfolgreichen Tag wünscht. Das Christentum behandelt den Menschen nicht unter einem Effizienzgesichtspunkt. Ohne jetzt wirklich an Gott zu glauben, finde ich diese Werte sympathisch und würde mich in diesem Sinne auch als Christ bezeichnen.

Alem Grabovac, 37, ist sonntaz-Autor und glaubt an das Gute