: Begleiter in das Jenseits
Das unverstellt Natürliche suchte Emil Nolde 1913 bei einer Expedition in die Südsee und fand das Eindringen der Zivilisation als Störung. Kurz vor ihm waren die Ethnologen aufgebrochen, deren Funde eine neue Ausstellung des Ethnologischen Museums Dahlem gilt
Alles in allem endete diese Reise wohl mit einer Enttäuschung. Zumindest konnte die Südsee-Expedition, der sich Emil Nolde im Jahr 1913 angeschlossen hatte, die hochgesteckten Erwartungen des Malers nicht befriedigen. Mit einer medizinischen Forschungsexpedition des deutschen Reichskolonialamtes hatte Nolde sich vom Berliner Bahnhof Zoo über Moskau, Sibirien, Korea, Japan und China bis nach Neuirland (im heutigen Papua-Neuguinea) aufgemacht, wo die Kolonialbeamten möglichen Krankheiten auf den Grund gehen wollten, die dem plötzlichen Bevölkerungsschwund auf dieser Südseeinsel zugrunde liegen mochten.
Als Kolonialherren über Deutsch-Neuguinea fühlten sich die Deutschen hier zuständig. Noldes persönliches Interesse richtete sich aber weniger auf gesundheitspolitische Fragen. Als Maler erwartete er von den Eingeborenen, dass sie ihm einen ästhetischen Schlüssel in die Hand geben würden. Wie schon Paul Gauguin suchte er in der Südsee das unverstellt Natürliche und einen Menschentyp, der im Unterschied zum verbildeten Zivilisationsbürger in völliger Harmonie mit der Natur lebte oder, besser noch, ein organischer Teil von ihr war.
Was hat Nolde stattdessen gefunden? Ein Volk unter Kolonialherrschaft und zugleich eines, das die Sitten und mitgeführten Materialien der europäischen Eindringlinge und Missionare schnell in Leben und Kult integriert hatte. Der Maler empfand dies als eine zivilisatorische Deformation eines Naturparadieses und schrieb frustriert an einen daheim gebliebenen Freund: „Ein freies stolzes Kriegervolk wird umgewandelt zu Hausboys und Arbeitern.“
Wenn die Kultur Neuirlands also schon vor hundert Jahren im Verschwinden begriffen war, ist das Wissen um die rituellen Gebräuche und die alte Kultur dieser Pazifikinsel heute erst recht lückenhaft. Neben einigen wenigen historischen Berichten von Südsee-Reisenden bieten die erhaltenen Kultobjekte der Neuirländer selbst Anhaltspunkte. Die Sonderausstellung „Welt der Schatten – Kunst der Südsee“ präsentiert nun im Ethnologischen Museum eine hochkarätige Auswahl davon: geschnitzte Skulpturen und Masken, die von 1900 an von europäischen Missionaren, Händlern, Kolonialbeamten und Forschern gesammelt worden waren. Schätzungsweise 25.000 Stück solcher Exponate befinden sich heute weltweit in Sammlungen und Museen. Die Berliner Ausstellung wurde durch eine Kooperation mit dem Saint Louis Art Museum und dem Pariser Musée du quai Branly möglich.
Und es ist tatsächliche eine Welt der Schatten, denn der überwiegende Teil der gezeigten Masken, Skulpturen und Schmuckstücke hatte seinen rituellen Platz in Totenfeiern, die zugleich die Gemeinschaft der Lebenden und die in mütterlicher Linie verlaufende Genealogie festigte und organisierte.
Holz, Pflanzenfasern, Muscheldeckel, Vogelfedern, Kittmasse und Farbe sind die bevorzugten Materialien dieser Kultobjekte. Zu den spektakulärsten Exponaten zählen dabei die Schädel von Verstorbenen, die anlässlich von Feierlichkeiten wieder ausgegraben und kunstvoll übermodelliert worden waren, sodass die Toten, die für die Dauer des Rituals symbolisch zum Leben erweckt wurden, sogar in Form ihrer physischen Überreste anwesend sein konnten.
Oft stellen die Skulpturen Vögel oder Fische dar, die den dahingeschiedenen Menschen im Schnabel oder Maul halten und zeigen, dass die Grenze zwischen Tod und Leben als ebenso durchlässig begriffen wurde wie die zwischen Tier und Mensch. Ein sechs Meter langes geschnitztes Kanu mit teils sitzenden, teils stehenden Ruderern erinnert daran, dass der im Ritual beschworene Klanführer in schwerer See ertrunken ist. Doch auch die von Nolde beklagten Einflüsse der westlichen Kultur zeigen sich an den Skulpturen selbst. Hier und da findet sich nämlich, in eine Maske eingearbeitet, gemustertes Baumwolltuch, das ganz offensichtlich westlicher Textilindustrie entsprungen ist. Oder noch deutlicher: Figuren, die weiße Männer mit Tropenhelmen oder anderen seltsamen Kopfbedeckungen darstellen.
Besonders rätselhaft ist dabei die Figur eines sogenannten „weißen Kannibalen“. Über ihn erzählt die Ausstellung weiter nichts. So bleibt genug Stoff für einen Tagtraum auf der Rückfahrt aus dem beschaulichen Dahlem. RONALD DÜKER
„Welt der Schatten – Kunst der Südsee“, Ethnologisches Museum Dahlem, Lansstr. 8, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. + So. 11–18 Uhr, bis 11. November