Istanbuls verfallene Holzhäuser

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren noch ganze Stadtviertel von Istanbul in der alten Struktur erhalten: Wunderschöne Holzhäusern prägten die Architektur auf der historischen Halbinsel. Sie wurden abgerissen und durch hässliche Betonbauten ersetzt, in denen man mehr Leute unterbringen konnte. Andere einzigartige Holzhausensembles am Bosporus mussten einer neuen Uferstraße weichen, dahinter wurden teure Appartements gebaut. Noch vor 100 Jahren bestand Istanbul fast ausschließlich aus Holzhäusern. Der Grund dafür ist die Erdbebengefahr. Holzhäuser sind flexibler gegenüber Erschütterungen und bei Erdbeben so etwas wie eine Lebensversicherung.

Und die historischen „Yalis“, die Holzhäuser am Wasser, verfielen, weil es für die Reichen lange Zeit als unmodern galt, in den alten Holzvillen am Bosporus ihren Sommer zu verbringen. Die Holzhäuser von Istanbul sind mittlerweile fast schon Geschichte, es gibt nur noch wenige Exemplare.

Dabei wären viele zu retten gewesen. Zwar ging ein großer Bestand von Holzhäusern immer wieder durch Brandkatastrophen verloren, doch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie regelmäßig wieder aufgebaut. Seitdem aber ist der größte Teil des Bestands verfallen und abgerissen worden. Bis in die 80er Jahre fehlte einfach das Geld und das Bewusstsein, diese Stadtstruktur wenigstens in einigen Teilen zu erhalten. Dazu kam der Modernisierungsdruck durch die massive Zuwanderung in den letzten 30 Jahren. Mit Landflüchtlingen aus Anatolien fanden sich Mitte des 20. Jahrhunderts neue Bewohner für die heruntergekommenen Häuser.

Ab den 80er Jahren wollte man dann den letzten Bestand retten und erließ strenge Denkmalschutzbestimmungen, die den weiteren Abriss von Holzhäusern verhindern sollten. Doch auch das erwies sich zumindest teilweise als kontraproduktiv. Die historisch getreue Restauration eines Holzhauses ist teuer. Viele arme Besitzer konnten sich das nicht leisten, sondern warteten einfach ab, bis ihr Holzhaus von allein in sich zusammenfiel.

Einen Umschwung brachte das Erdbeben 1999. Jetzt erinnerte man sich an die herausragende Eigenschaft von Holzhäusern bei Erdbeben. Einige historische Häuser wurden gekauft und wieder aufgebaut. Doch auch dies ist nur ein letzter Versuch, eine schwache Erinnerung an den einstigen Glanz. In diesen Tagen ist in den Istanbuler Buchläden ein Bildband mit dem Titel: „Die verlorenen Holzhäuser Istanbuls“ erschienen. Ein Buch, das man nur voller Wehmut durchblättern kann.

Die Holzhäuser von Istanbul sind auch der Grund, warum eine der berühmtesten Stadtmauern der Welt, die im 4. Jahrhundert gebaute Theodosianische Mauer, die vom Marmarameer bis zum Golden Horn die Stadt jahrhundertelang gegen Angriffe von Land aus schütze, bis heute noch steht. Die Steine wurden nicht wie in anderen Städten für den Bau von neuen Häusern gebraucht. JÜRGEN GOTTSCHLICH