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Archiv-Artikel

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON TIMO FELDHAUSEGON EIERMANN REGIERT BERLIN, SVEN MARQUARDT KURATIERT DAS BERGHAIN Ich kenn cool schon viel länger als du

VON TIMO FELDHAUS

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

Auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Straße, auf der sich bis letztes Jahr noch ein „Thor Steinar“-Laden befand, steht nun der Shop „Best of Germany“. Neben einem Friesennerz und einer handgeschnitzten Kuckucksuhr mit Jagdmotiv steht schick der Klappstuhl Modell SE 18 von Egon Eiermann im Schaufenster.

Wir kommen aus Kreuzberg, im Off-Space „Studio“ auf der High Line Berlins am Kotti drapiert der Wiener Künstler Nadim Vardag bunte Badetücher der italienischen Firma Missoni in die Stäbe der berühmten Egon-Eiermann-Tischgestelle. Einen Tag zuvor zum Interview beim Architekten Friedrich von Borries in seinem Haus im Hansaviertel, das von Egon Eiermann und seiner Nachkriegsmoderne-Crew geplant wurde: Von Borris spricht über die Widersprüchlichkeit, mit der jeder heute leben müsse. In seinem Roman 1 WTC ist vom Tod der Moderne zu lesen. Es sitzen dort Menschen in weißen Lofträumen auf Eames Chairs. Das dürfe man nicht so ernst nehmen, sagt er. Andererseits dürfe man sich auch nichts vormachen, denn dieses Klischee sei nicht nur ein Klischee, sondern auch die Wirklichkeit. Wir starren auf seine Konstantin-Grcic-Gartenstühle und lächeln uns wissend an.

Das Hansaviertel von heute ist die Townhousesiedlung „Neue Welt“ in Friedrichshain. Wir radeln durch die menschenleeren Gässchen vor den kleinen Rasenflächen, überall stehen blaue Spielstraßenschilder. Später sitzen wir in einem roten Safe des Kellerraumes der ehemaligen Bünzli-Bank. Der enge Raum der roten Tresore beortet heute die Champagnerbar. Der vom „Kunstmagazin“ inszenierte Club mit Teppich und Spiegelwänden hat Potential. Wir gehen trotzdem weiter ins Kumpelnest. Die Off-Space-Galeristin nickt so Rivalen-der-Rennbahn-mäßig ihren Pony aus dem Gesicht. Spielerisch hängt ein Seidenmalerei-Schal um ihren Hals. Geld spielt keine Rolex, meint Anne.

Schusssichere Weste

Früher war das Kumpelnest für seinen charmanten taub-stummen Kellner berühmt, heute fällt vor allem der riesige, schwer muskulöse Bürstenhaarschnittsmensch auf, der eine Zigarre und eine schusssichere Weste trägt. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um den Kurator des Ladens. Ebenso möchte sich Sven Marquardt in seiner Tätigkeit als Doorman des Berghain verstanden wissen, erklärt er ohne falsche Scheu in der Wochenendausgabe der New York Times.

Der seltsame Summer of ‘11 hat alle erwachsen gemacht. Früher sind wir durch die Straßen dieser Stadt gerannt, haben das gute Leben gesucht und an jeder Ecke einen Teil davon verfliegen sehen. Heute spiele ich am liebsten bis in den frühen Abend hinein Ball mit den Kids vom Wasserturm. Bürgerlichkeit bedeutet, all die Dinge wieder zu tun, die man in der Pubertät abgelegt hatte, weil man sie für regimetreu hielt: Mannschaftssport treiben, Mannschaftssport schauen, über Mannschaftssport reden. Der Szenefotograf André C. Hercher bemerkt: Sport ist Kulturmord, doch ich höre extra nicht hin.

Sonntag trifft man sich ein letztes Mal am Plötzensee. Patrick Wagner, der frühere Chef des Kitty-Yo-Labels, spielt mit seinem Sohn Fußball. Sie sind beide sehr gut darin. Meine vierjährige Tochter und ich schieben ein blasses Art-Deco-Karussell an. Sie meint: „Ich kenn cool schon viel länger als du“, und dass ich ihr das Wort nicht ständig nachsagen solle. Vielleicht hat sie recht.