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Archiv-Artikel

Kanonenkugel von Hønefoss

SKISPRINGEN Der Norweger Anders Jacobsen, zu Saisonbeginn nur unter „ferner liefen“, fliegt plötzlich verdammt weit und mausert sich zum Tourneefavoriten

DIE TOURNEE

■ Die Gesamtwertung:

1. Stefan Kraft (Österreich) 561,9 Pkt. 2. Peter Prevc (Slowenien) 560,8 3. Michael Hayböck (Österreich) 554,8 4. Anders Jacobsen (Norwegen) 540,7 5. Noriaki Kasai (Japan) 534,0 6. Andreas Kofler (Österr.) 524,2 7. Gregor Schlierenzauer (Österr.) 523,2 8. Roman Koudelka (Tschechien) 522,4 9. Rune Velta (Norwegen) 520,8 10. Kamil Stoch (Polen) 518,7 …12. Severin Freund (D) 515,2 13. Richard Freitag (D) 513,2

■ Die Quote: Das Neujahrsspringen hat der ARD eine gute Einschaltquote beschert. Im Durchschnitt verfolgten am Mittwochnachmittag 6,05 Millionen Zuschauer den Wettbewerb. Das bedeutete einen Marktanteil von 28,9 Prozent.

■ Der Rest: Am Sonntag findet das dritte Springen der Tournee in Innsbruck statt, am 6. Januar das letzte in Bischofshofen.

AUS SEEFELD KLAUS-ECKHARD JOST

Da rannte er durch den Auslauf der Olympiaschanze, hüpfte wie ein kleines Kind, reckte seine Ski nach links und rechts. Niemand hatte wirklich mit Anders Jacobsen bei dieser Vierschanzentournee gerechnet. Und dann verlässt der Norweger das Stadion in Garmisch als Sieger. „Meine Erinnerungen an diese Schanze sind fantastisch“, versuchte der 29-Jährige seinen Coup zu erklären. Schon vor zwei Jahren hatte er das Neujahrsspringen gewonnen. Jacobsen ist ein Phänomen. Bundestrainer Werner Schuster bezeichnete ihn als interessanten Springer – ein richtiges Stehaufmännchen. Denn immer, wenn man nicht mit ihm rechnet, taucht er auf. Das war auch kurz vor Weihnachten 2006 der Fall, als er völlig überraschend in Engelberg sein erstes Weltcupspringen gewinnen konnte. Im Sommer erst hatte der damalige norwegische Trainer Mika Kojonkoski den jungen Springer getestet und ihn darauf ins Weltcupteam genommen.

Noch ahnte in Engelberg keiner, was bei der Vierschanzentournee passieren sollte. Jacobsen hatte einen Lauf. Nach Platz vier in Oberstdorf und dem fünften Rang in Garmisch-Partenkirchen ließ er in Innsbruck seinen zweiten Weltcupsieg folgen. Und nach dem zweiten Platz beim Abschlussspringen in Bischofshofen war er Sieger der Tournee. Damit hatte selbst sein Trainer nicht gerechnet. „Ich bin vollkommen überrascht“, sagte Kojonkoski.

„Anders hat wie Gregor Schlierenzauer ein sehr hohes technisches Niveau, besonders was die Bewegung am Tisch angeht“, urteilte Kojonkoski, „aber Anders ist mental stärker.“ Alexander Stöckl, Kojonkoskis Nachfolger, sagt zu Jacobsens Technik: „Diese Tragflächenform, die er nach dem Vorbau einnimmt, da kommt kaum einer hin.“

Seine überragenden Qualitäten demonstrierte Jacobsen, der von seinen Mannschaftskollegen „Kanonenkugel von Hønefoss“ genannt wird, auch vor zwei Jahren. Für die Siege in Oberstdorf und Garmisch wurde jedoch auch ein speziell präparierter Schuh verantwortlich gemacht. Den hatte Coach Alexander Stöckl gemeinsam mit seinem Vater entwickelt. Die Geschichte vom Stöckl-Schuh machte deshalb schnell die Runde. Nach dem wahren Geheimnis des Schuhwerks, dessen Besonderheit eine Art Schienbeinschoner ist, befragt, sagt Stöckl heute: „Der Vorteil lag überwiegend im mentalen Bereich.“

Dazwischen war Anders Jacobsen komplett von der Bildfläche verschwunden. Im Mai 2011 hatte der ruhige Springer, der nicht gerne im Mittelpunkt steht, kundgetan, dass er sich eine Auszeit vom Skispringen nehme und möglicherweise seine Karriere sogar ganz beende. Der Grund seien Motivationsprobleme. Ein weiterer Grund war auch, dass er vier Monate davor zum ersten Mal Vater geworden war. Doch die Pause des gelernten Klempners dauerte nicht lange. Bereits im Januar 2012 kündigte er seine Rückkehr auf die Schanzen an. Doch erst mit Beginn des kommenden Winters schaffte er wieder den Sprung ins norwegische Weltcupteam.

Schon bald folgte der nächste Rückschlag, als er sich beim Skifliegen in Planica 2013 bei einem Sturz das Kreuzband riss. Doch operiert wurde Jacobsen erst im Frühjahr 2014. Deshalb sagte er nach seinem Erfolg: „Nach der Knieoperation im Frühjahr konnte ich erst Ende Oktober auf einem guten Niveau trainieren.“ Trotzdem konnte er sich zu Saisonbeginn nicht für das Springen in Lillehammer qualifizieren. Coach Stöckl verordnete intensives Training, auch an den Weihnachtstagen.

Durch seinen Sieg ist Anders Jacobsen auf Platz vier in der Tourneewertung vorgerückt. Doch der Norweger will mehr. „Es sind noch vier Sprünge, der Tourneesieg ist noch möglich.“ Etwas mehr als zehn Meter muss er aufholen. Überstürzen will er nichts. „Ich gehe die Sache Schritt für Schritt an.“ Er setzt seine Hoffnung auf seine Form – und den Flow. „Dann ist alles möglich.“ Dann dürfte Anders Jacobsen bald wieder durch den Auslauf rennen, wie ein kleines Kind hüpfen und seine Ski nach links und rechts recken.