: Anarchie ist echt anstrengend
NACHBARSCHAFT Europa statt Nationalismus: Polens Ratspräsidentschaft zeigt sich auf dem europäischen Kulturkongress in Breslau von einer überraschenden Seite – und öffnet sich der kulturellen Linken
VON UWE RADA
Es bereitet ihm sichtlich Vergnügen. „Nirgendwo auf der Welt ist uns das Andere so sehr Nachbar wie in Europa, ob wir das wollen oder nicht“, sagt der britisch-polnische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman. „Es ist diese Vielfalt der Kulturen, die darüber entscheidet, ob die Einheit Europas gelingt oder nicht.“
Baumans Botschaft ist klar: Europa ist entweder multikulturell – oder es scheitert. 1925 in Posen geboren, weiß Bauman, wie sich dieses Scheitern anfühlt. 1968 musste er Polen verlassen, die Kommunisten haben die polnischen Juden, die den Holocaust überlebten, als Sündenböcke außer Landes gejagt. Dass er nun, 86-jährig, von der polnischen Regierung eingeladen wurde, den Europäischen Kulturkongress in Breslau zu eröffnen, ist ihm eine Genugtuung. „Sie erwarten sicher eine Provokation von mir“, scherzt er zu Beginn seiner Rede am Donnerstagabend in der von Max Berg 1913 erbauten Jahrhunderthalle.
Doch die eigentliche Provokation ist die Personalie Bauman selbst. Mit dem bekennenden Sozialisten will sich Polen in Zeiten der Eurokrise nicht nur als verlässlicher Partner in Europa präsentieren. Der unangepasste Europäer Bauman als Aushängeschild der polnischen Ratspräsidentschaft, zu der das Breslauer Spektakel gehört, das ist auch ein deutlicher Linksruck in der polnischen Kulturpolitik. Also sprach auch Staatspräsident Bronislaw Komorowski vom Europa der Vielfalt, und Jerzy Buzek, der Präsident des Europaparlaments, entpuppte sich gar als Freund der Anarchie. „In der Politik ist sie kein guter Ratgeber“, lobte er, „in der Kunst hingegen ist sie die Voraussetzung für Kreativität.“ Kein Wunder, dass Polens nationalkonservative Opposition tobte. „Die Regierung hat den Kongress in die Hände der extremen Linken gegeben“, kritisierte der PiS-Abgeordnete Kazimierz Ujazdowski.
Am Tag nach der Inauguration herrscht auf dem weitläufigen Gelände der Jahrhunderthalle, seit 2006 Weltkulturerbe, eine ausgelassene Atmosphäre. Liegestühle mit Rollen konfigurieren immer neue Dialogsituationen, vor der monumentalen Stele erinnert ein Workshop an den Intellektuellenkongress von 1948, mit dem sich das kommunistische Polen in Breslau als europäische Friedensmacht etablieren wollte. In einer der Veranstaltungshallen wird diskutiert, ob die Massenkultur des Internets auf der Seite des Aufstands oder des Kapitals steht. Der Krakauer Kulturtheoretiker Kuba Mikurda weiß es auch nicht. Er fragt: „Wo bleibt die Subversion? Wogegen soll sie sich richten?“
„Arts for social change“, lautete das Motto des Mammutkongresses mit über 100 Veranstaltungen, der Breslau auch im Straßenbild beherrschte. Doch die frohe Botschaft kam eher von oben. Wer zur Eröffnungsveranstaltung wollte, musste sich eingehenden Leibesvisitationen unterziehen, und alle Panelbesucher hinterlassen nach dem Scan ihrer Kongressakkreditierung digitale Spuren. So sieht sie also aus, die kulturelle Anarchie.
Gianni Vattimo, bekennender Kommunist, Schwuler, Philosoph und einstiger Europaabgeordneter der Linken aus Italien, hat ein Buch geschrieben. „Nicht Gott sein“ heißt die in Dialogform geschriebene Autobiografie. Etwa 30 Zuhörer sind gekommen, junge Intellektuelle, die hier für vier Tage eine Heimstatt haben. „House of social Change“, heißt die „Willa Dzieduszickich“ aus der Epoche des neuen Bauens, hier lädt die linke Zeitschrift Krytyka Polityczna (politische Kritik) zu einem Veranstaltungsmarathon.
Das Podium besteht aus einem Holztisch und zwei Stühlen, die Atmosphäre ist die der Wohnzimmerveranstaltungen, die es so nur im oppositionellen Milieu Osteuropas gegeben hat. Doch mit Samisdat hat Krytyka polityczna wenig zu tun, die Zeitschrift, die auch einen Verlag betreibt, ist europaweit vernetzt, einen Tag nach Vattimo stellt Peter Sloterdijk sein neues Buch vor.
Ein Politikum ist das „House of Change“ für die polnische Rechte. Hier würden ein paar Praktikanten auf der Jagd nach EU-Mitteln die einzig wahre Kunst propagieren, ätzte die Rzeczpospolita. Für die stramm rechte Tageszeitung ist der Breslauer Kongress Teil einer europäischen Antikultur, die von Berlin und seinen brennenden Autos über Spanien und seinem studentischen Mob bis hin nach London und den plündernden Jugendlichen reicht.
Antikultur, oder besser, eine leidliche Distanz zum linksintellektuellen Milieu des Kongresses demonstrieren am Samstagnachmittag Tausende Breslauer, die allesamt in Weiß-Rot und mit Polska-Fahnen auf den Marktplatz strömen. Bevor es am Abend ins neue EM-Stadion geht, muss ordentlich vorgeglüht werden. Es ist allerdings kein Fußballspiel, das die nationalen Gefühle aufwallen lässt, sondern der Boxkampf von Tomasz Adamek gegen Vitali Klitschko.
So endet der Europäische Kulturkongress durchaus nicht in Wohlgefallen. Viel Anspruch gab es, aber wenig neue Erkenntnisse, viel Statement und erstaunlich wenig Diskussion. Entscheidend aber war die Lust am Widerspruch, der Reibung und auch der genretechnischen Grenzüberschreitung, mit der Breslau Lust auf die Kulturhauptstadt Europas 2016 machte. Reibungen gab es am Ende auch auf dem Breslauer Marktplatz, wo sich Baumans „Europa des Anderen als Nachbar“ einem unerwarteten Faktencheck unterziehen musste. Und siehe da: Junge Europäer und Kulturtouristen quittierten die Gesänge der Adamek-Fans eher mit einem angestrengten als einem entspannten Lächeln. Unter Laborbedingungen mag Multikulti chic sein, in Wirklichkeit ist es manchmal ganz schön anstrengend.