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Archiv-Artikel

Tanzen auf Hebbels Grabplatte

PERFORMANCE Echtes Wetter, echte Aktion verspricht das Performancefestival „Testing Stage“ im HAU. Zu Gast sind unter anderem das New Yorker Performa-Festival und die Gender-Trash-Künstler des leider geschlossenen Basso

Phil Collins verkauft im Shoppingkanal ein Verhör und einen viktorianischen Porno

VON TOM MUSTROPH

Performance Art – ist das nicht etwas für zu spät geborene Kunstgeschichtsstudentinnen, die sich Videos reinziehen, die wegen wiederholter Kopierdurchläufe durch verschiedene Generationen von Aufzeichnungssystemen nur noch unscharfe und entfärbte Bilder abliefern? Ein lautes Nein schallt von der anderen Seite des Atlantiks herüber. Ein Machtwort von RoseLee Goldberg. Die Grande Dame des Sprechens und Schreibens über Performance Art hat vor sieben Jahren in New York die Biennale Performa ins Leben gerufen.

Goldberg glaubt nicht nur an die Vitalität dieser meist im Appendix von Ausstellungsevents abgelegten Kunstform. Sie finde, so schildert sie in einem Interview zur Programmbeilage des Festivals „Testing Stage“ im Hebbel am Ufer, immer mehr Künstler in den sogenannten Peripherien, die mit großer Dringlichkeit und Unmittelbarkeit das verarbeiteten, was sich in ihrem Wahrnehmungsapparat verfängt.

Weil die Performa sich inzwischen zu einer dreiwöchigen Plattform auswuchs (aktuell vom 1. bis 21. November) und weit in das Stadtgebiet ausgreift und weil die Performance Art nach dem Zusammenbruch von Finanzmarkt und Kunstmarkt eine Renaissance erfuhr, sahen sich nun auch HAU-Intendant Matthias Lilienthal und seine Kokuratorin Katrin Dod zu einem Performance Art Festival ermutigt. Sie installieren mit „Testing Stage“ ein Berliner Fenster der Performa in ihrem Theaterbetrieb.

Entsprechend der schon legendären Maßlosigkeit von Lilienthal ist aus dem Fenster eine ganze Fensterfront, ja ein echter Glaspalast geworden. Ungefähr vier Dutzend Künstler stellen sich mit Aktionen und Arbeiten vor, die meisten von ihnen in der durchgehenden Performancenacht am 24. September, die von den Betreibern und Freunden des inzwischen eingestellten Projektraums Basso organisiert wird. „Die werfen ihr ganzes Gender-Trash-Zeug gegen den Jugendstilbau des Hebbeltheaters, den sie als eine aufgestellte Grabplatte lesen“, meint Lilienthal und reibt sich vor Vergnügen die Hände.

Ein paar herausragende Einzelarbeiten werden in den Tagen zuvor und danach präsentiert. Phil Collins, in den Tagen der Temporären Kunsthalle mit seinem Autokino-Revival ein Publikumsmagnet, hat einen Shoppingkanal als Arbeitsplattform entdeckt. Der Shoppingkanal wird zwar „nur“ von ZDF Kultur gestellt – ein authentischer Hausfraueneinkaufssender wäre Collins lieber gewesen. Aber über diesen Weg kann man nun tatsächlich eine Performance erwerben und sie am nächsten Tag mit Collins im HAU ausagieren. Das wiederum wird als Kaufanreiz vom Fernsehen übertragen. Zu erwerben seien Situationen wie ein Verhör oder ein viktorianischer Porno, sagt Lilienthal voraus.

Tobias Rehberger, ein gern gigantische Räume inszenierender Schüler von Kontrastfiguren wie Thomas Bayerle und Martin Kippenberger, baut ins HAU2 eine Wettersimulation ein. Wenn es an den drei Referenzorten – Coatzacoalcos, Mexiko; Malin Head, Irland und Hachijojima, Japan – regnet, stürmt oder auch die Sonne vom Himmel brennt, dann regnet, stürmt oder brennt es auch hier im Theater. Rehberger empfiehlt den Zuschauern, sich klimagemäß zu kleiden.

Simon Fujiwara, in London aufgewachsener Sohn eines japanischen Vaters, macht sich auf die Suche des Exbesitzers einer Bibliothek, die er auf dem Flohmarkt erstanden hat. Er entdeckt dabei drei verschiedene Männer namens Theo Grünberg, sich selbst und das vergangene Jahrhundert gleich mit. Vorgestellt werden des Weiteren Arbeiten von Keren Cytter, Nevin Aladag, Dominique Gonzales-Foerster und Ari Benjamin Meyers.

Interessant an dem Format von „Testing Stage“ dürfte werden, dass diese im Kontext der bildenden Kunst entwickelten Performances nun in Theaterräume transferiert werden. Lilienthal und Dod hoffen, dass sie dabei die Galerie-Aficionados nicht verlieren werden und das Theaterpublikum neugierig genug auf neue Reize ist. „Die Kunstmenschen kommen, die Theatermenschen kommen. Alle sind ein wenig verwirrt, und am Ende finden sie es großartig“, lautet Lilienthals optimistische Prognose.

■ „Testing Stage“ findet vom 15. September bis 1. Oktober im HAU statt