: Das Drama des Vincent Lambert
MENSCHENRECHTE Ein Motorradfahrer befindet sich nach einem schweren Unfall seit sechs Jahren im Wachkoma. Soll er sterben dürfen?
AUS STRASSBURG CHRISTIAN RATH
Darf bei Wachkoma-Patienten die künstliche Ernährung eingestellt werden? Oder verletzt diese Entscheidung das Recht auf Leben? Das muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem dramatischen Fall aus Frankreich entscheiden.
Vincent Lambert liegt seit einem Motorradunfall im Jahr 2008, bei dem er schwere Hirnverletzungen erlitt, im Koma. Außerdem ist er seither querschnittsgelähmt. Über eine Magensonde wird er künstlich ernährt. Die Ärzte haben die Hoffnung auf eine substanzielle Besserung aufgegeben. Zwar reagiere Lambert auf Reize, das seien aber nur unbewusste Reflexe.
Der behandelnde Arzt am Universitätsklinikum Reims schlug deshalb vor, die künstliche Ernährung einzustellen. Lamberts Frau Rachel war einverstanden. Ihr Mann hatte zwar keine Patientenverfügung hinterlassen, da er zum Zeitpunkt des Unfalls erst 32 Jahre alt war. Sie hätten aber über das Thema gesprochen, da sie beide als Krankenpfleger arbeiteten. In einem Zustand völliger Abhängigkeit hätte er nicht am Leben erhalten werden wollen, sagte sie.
Die Eltern haben aber noch Hoffnung. Erst jüngst habe ihr Sohn erstmals wieder Schluckreflexe gezeigt. Das Beenden der künstlichen Ernährung wäre eine „verkappte Euthanasie“. Und weil die Eltern den erzkonservativen katholischen Piusbrüdern nahestehen, entwickelte sich in Frankreich um den Fall Lambert ein neuer Kulturkampf. Dieselben Kreise, die gegen die Einführung der Homo-Ehe wetterten, kämpfen jetzt gegen das „Todesurteil“ für Vincent Lambert.
Im Juni entschied das oberste französische Verwaltungsgericht, der Conseil d’Etat, gegen die Eltern. Deren letzte Chance ist jetzt der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Dort nimmt man das Verfahren sehr ernst. Sofort ordneten die Richter eine Fortführung der Ernährung bis zum Urteil an. Das Verfahren wurde in Straßburg mit Priorität behandelt und wegen grundsätzlicher Bedeutung sogleich an die Große Kammer mit 17 Richtern überwiesen.
In der mündlichen Verhandlung wehrte sich die französische Regierung jetzt gegen den Euthanasie-Vorwurf. „Das Ziel des Arztes ist es nicht zu töten, sondern den Willen des Patienten zu respektieren“, sagte der Regierungsanwalt François Alabrune. Die Eltern lassen das aber nicht gelten. Sie glauben, dass sich Rachel Lambert die angeblichen Äußerungen ihres Mannes auf Wunsch der Ärzte ausgedacht hat. Damit werden sie in Straßburg wohl nicht durchkommen. Mehr Gewicht hat das zentrale juristische Argument der Eltern. Sie behaupten, der Zustand ihres Sohns sei keine Krankheit, sondern eine Behinderung. Die künstliche Ernährung sei deshalb auch keine medizinische Behandlung, sondern ein bloßer Akt der Pflege. Daraus folgern sie, dass es auf eine mutmaßliche Ablehnung von Vincent Lambert gegenüber medizinischer Lebensverlängerung gar nicht ankomme.
Falls der Gerichtshof dem folgt, hätte es große Auswirkungen in ganz Europa. In Deutschland, aber auch in vielen anderen Staaten, gilt künstliche Ernährung bisher als medizinische Behandlung, die nur mit tatsächlicher oder mutmaßlicher Zustimmung des Patienten möglich ist.
Es wäre allerdings eine große Überraschung, wenn die Straßburger Richter den Eltern Recht geben. Bisher hat der Gerichtshof den 47 Mitgliedstaaten des Europarats in Fragen der Sterbehilfe viel Spielraum gelassen.
Rachel Lambert kritisierte, dass die Eltern überhaupt im Namen Vincent Lamberts klagen konnten. Er hätte eine solche Klage nie unterstützt, ließ sie das Gericht wissen.