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Archiv-Artikel

Der lange Arm

Im Bundesmilitärarchiv Freiburg werden die Hinterlassenschaften der Waffen-SS aufbewahrt. Anschauen darf man die Dokumente. Doch will man sie nutzen, müssen ehemalige SS-Leute die Erlaubnis dazu geben

von Gunter Haug

Vermutlich dürften die Sektkorken bei den alten braunen Kameraden geknallt haben, als der Coup perfekt war: Ausgerechnet der Staat, den sie verachten, greift ihrer SS-Seilschaft finanziell unter die Arme. Denn das Bundesmilitärarchiv in Freiburg hat sich Mitte der 90er Jahre verpflichtet, Unterlagen der ehemaligen Waffen-SS zu lagern und zu pflegen, ohne dass die braunen Konsorten dafür bezahlen müssten. Vor allem aber hat sich das Archiv darüber hinaus verpflichtet, jede Verwendung der Akten – das Zitieren in historischen Arbeiten beispielsweise – nur mit der Zustimmung der Altbraunen zuzulassen. Die Unterhaltungskosten werden somit also dem Steuerzahler aufs Auge gedrückt, die alleinige Verfügungsgewalt bleibt dagegen beim braunen Sumpf. Das hat sich in diesen Kreisen schnell herumgesprochen: Beim Abschluss des Abkommens ging es noch um rund zehn Regalmeter, inzwischen sind es mehrere hundert.

Dem Autor Franz Josef Merkl hat es während seiner Recherchen im Bundesmilitärarchiv beinahe die Sprache verschlagen. Merkl recherchierte für seine Doktorarbeit über die Mörder der „Männer von Brettheim“. In dem Ort in Hohenlohe hatten es drei Männer kurz vor Kriegsende gewagt, halbstarken Hitlerjungen die Panzerfäuste wegzunehmen, die man ihnen gegeben hatte, und sie nach Hause zu schicken. Einer der Buben bekam von einem Bauern aus dem Dorf eine Ohrfeige verpasst. Die Kindersoldaten stießen kurz darauf auf eine Einheit der SS und berichteten, was ihnen geschehen war. Die SS-Truppe nahm die drei Männer postwendend fest. Ein Standgericht machte kurzen Prozess mit ihnen: Sie wurden zum Tode verurteilt und in ihrem Heimatdorf aufgehängt.

Im Rahmen einer Doktorarbeit über den für die drei Morde verantwortlichen SS-General Max Simon war Franz Josef Merkl in Freiburg fündig geworden. Er durfte die Quellen für eine Veröffentlichung aber nicht nutzen. Das sei erst möglich, wenn er für die Einsichtnahme die Genehmigung eines verantwortlichen Mitglieds der HIAG, der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS e. V.“ erhalte, wurde ihm erklärt. Es gebe eine „Benutzungseinschränkung“. Ohne grünes Licht eines ehemaligen Obersturmbannführers der Waffen-SS müsse er auf diese Archivalie leider verzichten, hieß es lapidar. Der Verfassungsschutz stuft die HIAG übrigens als rechtsextremistische Organisation ein.

Nachfragen beim Militärarchiv ergeben freilich, dass alle Unterlagen zugänglich seien. Doch die Praxis ist wohl anders. Gibt es Nutzungsbeschränkungen, ist es ein Kampf, an die Unterlagen heranzukommen und sie verwerten zu können.

Falls man sich von der ersten Absage nicht abwimmeln lässt, geht die Prozedur nach dem immer gleichen Muster weiter. „Man solle sich gedulden“, wird dem Antragsteller beschieden, das Archiv müsse erst einmal beim Besitzer der Archivalie nachfragen, ob es eventuell und ausnahmsweise doch gestattet sei. Weshalb nicht gleich eine direkte Anfrage? Nein, das sei unmöglich. Der Name des Besitzers habe auf alle Fälle geheim zu bleiben – auch auf diese Bedingung hat sich die Bundesbehörde bei der Einlagerung des Bestandes verpflichtet. Nur über diesen Umweg sei, wenn überhaupt, eine Einsichtnahme möglich. Die Erfolgsaussichten? Schwer zu beurteilen. Hängen ganz und gar von Neigung, Lust und Laune des lichtscheuen Hintergrundakteurs ab, dessen Name und Anschrift vom Archiv sorgsam verheimlicht werden.

Material, das Legenden über die SS-Kämpfer konserviert

Der Autor Merkl hatte jedenfalls Glück: Dank seines Verweises auf eine langjährige Dienstzeit bei der Bundeswehr gestattete ihm der anonyme SS-Interessenverwalter schließlich doch noch die Nutzung seines in Freiburg lagernden Bestands. Dabei handelt es sich um Archivmaterial der HIAG. Allein auf stolze 25,8 laufende Meter bringt es die Hinterlassenschaft der „Kameradschaft des XV. Kosaken-Kavallerie-Korps“, und immerhin noch aus 19,6 Regalmetern besteht der Nachlass von Wolfgang Vopersal, dem ehemaligen Dokumentar der HIAG, der das braune Schrifttum dem Militärarchiv anvertraut hat, wo es seitdem gut klimatisiert und sicher verwahrt in säurefreien Mappen und Kisten auf Bundeskosten in der Freiburger Wiesentalstraße 10 gelagert wird.

Im Einzelnen lassen sich darin schwer verdauliche Materialsammlungen finden, Titel wie „Soldaten, Kämpfer, Kameraden“ oder „Im gleichen Schritt und Tritt“, die einzig dem Zweck dienten (und von interessierten Kreisen nach wie vor dazu benutzt werden), alte Legenden zu konservieren und neue Epen über die Heldentaten der alten SS-Kameraden zu streuen. Und dies alles, ohne befürchten zu müssen, dass womöglich ein Unbefugter seine kritische Nase in die Propagandablätter stecken könnte.

Die Beschäftigung mit der HIAG-Hinterlassenschaft wäre für die zeitgeschichtliche Forschung hochinteressant. Allein mit dem von dem Autor Merkl gesichteten Material lässt sich beispielhaft nachweisen, mit welcher Raffinesse die SS-Seilschaften nach dem Krieg ihre Legenden schufen und streuten, wenn einem der Kameraden eine gerichtliche Verurteilung wegen der massenhaften Erschießung von Zivilisten drohte. Den SS-General Max Simon hatten sie gar zum Regimegegner umfärben können. Deutlicher könnten die Versuche der Geschichtsklitterung gar nicht nachgewiesen werden – und um genau jener Gefahr zu begegnen, haben sich die cleveren Ex-SS-Männer vom Bundesarchiv ihre alleinige (und streng geheime) Nutzungshoheit gesichert.

Dokumente unter Verschluss: „Benutzbar ab 2020“

Das ist jedoch längst nicht alles an bräunlichem Schrifttum, das, sicher verwahrt vor den Augen einer allzu neugierigen Öffentlichkeit, im Militärarchiv schlummert. Unter den gut und gerne 55 Aktenkilometern, die im Freiburger Archiv insgesamt gehütet werden, findet sich beispielsweise das „Verbandsdruckgut“ vom „Kameradenkreis“ der 306. Infanterie-Division 1940–1944. Titel: „Rückblick auf den Einsatz der 306. Division im Südabschnitt der Ostfront“. Jedoch: wer genauer wissen möchte, wie der Naziüberfall im Osten wohl aus dem Blickwinkel des Kameradenkreises beschrieben wird, der wird unter der Rubrik „Benutzungsbeschränkungen“ mit dem knappen Vermerk „Benutzbar ab 2020“ abgespeist. Nicht anders beim „Kyffhäuserbund e. V.“. Dessen gut behütete Archivalie unter der „Bestellsignatur MSG 3/567“ wird erst ab dem Jahr 2023 „benutzbar“.

Ziemlich zur Sache muss es wohl am 15. und 16. September 1989 in Tübingen beim 13. Treffen der ehemaligen Angehörigen der 78. Infanterie- und Sturmdivision gekommen sein, man feierte die Divisionsaufstellung vor 50 Jahren. Mutmaßlich so zackig, dass der üppige Jubiläumsbericht des Kameradenhilfswerks sicherheitshalber noch bis 2019 im Militärarchiv unter sicherem Verschluss bleiben muss.

Interessant wäre es auch zu wissen, welche Erkenntnisse das „Kameradenhilfswerk der ehemaligen (Ostfriesischen) Infanterie- und Sturmdivision Nr. 78“ auf seiner Russlandreise vom 4. bis zum 19. August 2001 „über Gräber und Gedenkstein der ehem. 78. Inf. und Sturmdivision“ gewonnen haben könnte. Doch Nutzungsbeschränkungen auch hier: Diese Einsicht kann erst ab dem Jahr 2031 gewährt werden. Man fragt sich unwillkürlich, was da wohl so alles an brisanten Neuigkeiten drinstehen mag, die offenbar das Licht des Jahres 2011 nicht vertragen?

Wissen bereitstellen, Quellen erschließen. Später dann mal

Man sei sich der Problematik einer vom Steuerzahler finanzierten Archivierung von rechtsextremem Gedankengut einer vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuften Organisation durchaus bewusst, heißt es auf Anfrage aus dem elfstöckigen Hochhaus des Militärarchivs Freiburg, das formal dem Bundesarchiv in Koblenz untersteht. Andererseits, so der Leitende Archivdirektor Michael Steidel, sei schließlich keiner der Nachlassgeber rechtskräftig verurteilt worden, und immerhin ermögliche man späteren Historikern mit der Bewahrung jener SS-Bestände irgendwann einmal eine Recherche in ebendiesen Beständen, die ansonsten womöglich für immer verloren wären. Getreu dem Leitbild der Behörde, „Wissen bereitstellen, Quellen erschließen“. Fragt sich halt nur, wann.

Selbstverständlich, meint Steidel, ließe sich auch über die Frage des ausdrücklichen Genehmigungsvorbehalts durch ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS trefflich diskutieren, aber natürlich müsse er den Vorwurf eines quasi vorauseilenden Gehorsams der Bundesbehörde vor den Empfindlichkeiten der Ewiggestrigen auf das Entschiedenste zurückweisen.

Wie sich die Sachlage in der Realität darstellt, zeigt geradezu exemplarisch der Fall des SS-Generals Max Simon, über den im „Bestand RS 7“ hochinteressante Fakten lagern. Simon, der gleich zu Beginn der Nazidiktatur die berüchtigten Wachkommandos in den neu eingerichteten Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau befehligte (zeitweise fungierte er gar als KZ-Kommandant), war nicht nur für die Morde im hohenlohischen Brettheim am 10. April 1945 verantwortlich, sondern hat auch die Erschießung von mehreren hundert Menschen beim Rückzug aus Italien auf dem Gewissen.

In seinem Buch „SS-General Max Simon – Lebensgeschichten eines SS-Führers“ weist Franz Josef Merkl akribisch nach, wie die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS“ erfolgreich versucht hat, diesen Massenmörder reinzuwaschen. Beispielsweise hatte sich der SS-General vor Gericht mithilfe eines publizistischen Trommelfeuers der Kameraden zum „Retter von Rothenburg“ hochstilisieren können – inzwischen wurde von ernsthaften Historikern jedoch zweifelsfrei nachgewiesen, dass dieses Verdienst eindeutig dem US-General John McCloy zusteht.

Atemberaubend, dass die Publikation dieser bedrückenden Fakten einzig und allein von der Genehmigung eines ehemaligen Mitglieds der Waffen-SS abhängig war, das sich – ein Glücksfall der Recherche – in diesem Fall wohl falsche Hoffnungen über das eigentliche Ziel der Arbeit gemacht hatte.

„Nicht wegschauen – sondern hinschauen!“ heißt das Motto in der Gedenkstätte „Männer von Brettheim“, unweit von Schwäbisch Hall gelegen. Die servile Haltung des Bundesmilitärarchivs gegenüber den Ewiggestrigen ruft hier deshalb nur eines hervor: Kopfschütteln.