Der Friedhof der Namenlosen

Die Welt mit dem richtigen Swing: Die Kontinentaldrift, Sprachverschiebungen und natürlich Nico im Spiegel Islands

VON WOLFGANG MÜLLER

Akwiratékha, Heimir und ich spazieren entlang der Almannagjá, der Allmänner-Schlucht. Dort, wo der europäische und der amerikanische Kontinent auseinanderdriften. Besonders schön sieht das Ergebnis der Kontinentaldrift nämlich hier im Žingvellir-Nationalpark wenige Kilometer von Reykjavík entfernt aus. Imposante Felsspalten und bizarre Risse im Basalt wechseln sich mit grünen Wiesen und kleinen Teichen ab. In den Spalten bedeckt kristallblaues Wasser Silbermünzen, die Besucher hineingeworfen haben. Gelegentlich stolziert ein Brachvogel herum, um mit seinem langen, gebogenen Schnabel ein argloses Insekt aus dem Erdreich zu ziehen.

Der Berliner Meteorologe und Geowissenschaftler Alfred Wegener entwickelte im Jahr 1911 die Theorie der Kontinentalverschiebung. Diese wiederum gilt heute als Grundlage der Plattentektoniktheorie. Erst in den späten 1960er-Jahren, über dreißig Jahre nach Wegeners Tod, wurde die Kontinentalverschiebung offiziell in den Rang einer wissenschaftlichen Wahrheit erhoben. Der Insel Island bescherte Wegener so in einigen Lehrbüchern und Reiseführern posthum den Status eines „eigentlich eigenen Kontinents“, der auf einem sehr produktiven „Heißen Fleck“ liege.

Jährlich spreizt sich die Insel um einen Zentimeter in beide Richtungen. Da an der Bruchstelle zwischen Nordamerikanischer und Eurasischer Platte ständig Basaltergüsse nach oben dringen, müsste diese Spalte genau genommen eben der Kontinent sein. Die heftigen Ergüsse auf ihrer westlichen Seite werden mit ihrer Erstarrung als Basalt gewissermaßen zum Bestandteil Amerikas, an der östlichen Seite zum Teil Europas.[1]

Die alten Isländer, betont Heimir, hätten – lange schon vor Christoph Kolumbus – gute Beziehungen zu den Ureinwohnern auf dem amerikanischen Festland gehabt: „Bereits im Jahr 1000 landeten fünfunddreißig Isländer in Amerika.“ Heimir kennt sich aus. In der Funktion eines Generalmanagers hatte er die historische Fahrt des nachgebauten Wikingerschiffes von Leifur Eríksson von Island nach Nordamerika im Jahr 2000 organisiert. Sein Gast Akwiratékha, ein Mohawk aus Kanada, ergänzt: „Jedenfalls waren Isländer die ersten bekannten Weißen, die mit den Kanien’kehá:ka[2] und anderen Völkern Nordamerikas Kontakt hatten.“ Die Bezeichnung für die Ureinwohner aus den isländischen Sagas, „Skrælingir“, heute übersetzt als Wilder, Unzivilisierter oder Barbar, klingt allerdings nicht unbedingt freundlich.

Im Norwegischen wird mit Skræling ein Schwächling, ein kranker oder magerer Mensch bezeichnet. Obgleich der Ursprung des Wortes nicht sicher ist, wird seine Herkunft zuweilen auch auf das altnordische Wort „ská“ zurückgeführt, das „Haut“ bedeutet: Die Kleidung der Ureinwohner bestand aus gegerbten Häuten und Fellen, während die Isländer gewebte Wolle bevorzugten. Heimir, dessen Name mit „Selbstständig Wohnender“, „zu Hause Bleibender“ oder kürzer mit „das Heim“ übersetzt werden könnte, hatte Akwiratékha – den brennenden Busch – im Jahr zuvor in der Touristeninformation des Kahnawà:ke-Reservats kennengelernt und nach Island eingeladen. „Die Deutschen werden auf Mohawk übrigens „Tehotinontsistokerón:te“ genannt. Das bedeutet so viel wie „Quadratköpfe“, klärt mich Akwiratékha auf, während wir langsam auf den Öxarárfoss, den „Axtwasserfall“, zugehen.

„Für die Isländer als Volk existiert in unserer Sprache kein offizielles, standardisiertes Wort.“ Heimir schaut enttäuscht auf Akwiratékha und haucht in das Rauschen des Wasserfalls ein kaum vernehmbares „Schade!“. Akwiratékha hebt beschwichtigend die Hand: „Bevor ich nach Island flog, sprach ich darüber mit einem älteren Mann aus einem anderen Reservat. Für ‚Island‘ entwickelte er das Wort ‚Owisó:kon‘. Ein Isländer wäre dann ein ‚Owisokón:ha‘ oder vielleicht ‚Owisokonhró:non‘.“ Er selbst sei sich da aber noch ziemlich unsicher.

Heimir erhebt seine Stimme und spricht von guten Beziehungen und Handelskontakten, die um die Jahrtausendwende zwischen Isländern und den nordamerikanischen Einwohnern bestanden hätten. Die Ausgrabung einer tausend Jahre alten Wikingersiedlung in den 1960er Jahren bei L’Anse aux Meadows auf Neufundland beweise dies eindringlich.

Vermutlich bis zu den Großen Seen und nördlich bis in die Region des heutigen New York, das Siedlungsgebiet der Mohawk, sind die Nordmänner auf ihren Expeditionen gedrungen. Insofern wäre es natürlich möglich, dass ein Vorfahre von Heimir einst einen Vorfahren von Akwiratékha getroffen hätte. Hier, in der Allmänner-Schlucht, wo Amerika und Europa auseinandertreiben, könne man mit beiden Beinen sogar auf zwei Kontinenten gleichzeitig stehen, strahlt Heimir und spreizt die Beine.

Akwiratékha hüpft von einem Bein auf das andere und fragt unvermittelt, ob ich Nico kennen würde. Die Sängerin Nico, alias Christa Päffgen? Geboren in Köln, aufgewachsen in Berlin, Fotomodell und Sängerin romantischer, tieftrauriger Balladen. Ja, klar kenne ich Nico. Tatsächlich war ich sogar bei ihrem letzten Konzert. Das fand 1988 im Berliner Planetarium statt. Zwei Wochen später erlitt sie in Ibiza während des Fahrradfahrens einen tödlichen Hitzschlag.

Akwiratékha, Jahrgang 1983, studiert Linguistik an der Universität von Manitoba in Winnipeg und sah Nico zum ersten Mal in einer Sendung des kanadischen Fernsehens. „Es lief da eine Serie, in der die Heldinnen der Popmusik porträtiert wurden. Nico gefiel mir mit Abstand am besten.“

Das erste Mal hörte ich dagegen einen Song von Nico in den 1970ern, in Wolfsburg. Auf der Velvet-Underground-Debüt-LP fragte sie: „And what costume shall the poor girl wear to all tomorrow’s parties?“ Das wirkte irgendwie traurig und komisch zugleich. Mit siebzehn kaufte ich Nicos neue LP „The End“, auf der neben der depressivsten Coverversion von den Doors auch das Deutschlandlied in extrem gedehnter Version zu hören ist.

Sozusagen eine deutsche Prä-Punk-Version von 1974. Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Liedes, wohnte bei mir um die Ecke, allerdings vor hundertfünfzig Jahren. In einem Fachwerkhaus am Schloss Wolfsburg erinnert eine Tafel daran, dass ihn hier ein Freund versteckte – vor den Häschern des Königs: Hoffmann von Fallersleben fand in diesem Pfarrhause vor dem Revolutionsjahr 1848 und danach Schutz auf der Flucht vor den staatlichen Verfolgern bei seinem Freund und politischen Weggefährten David Lochte, Pastor von St. Marien 1826–1862.

Wer Nicos Musik hörte, war in Wolfsburg jedenfalls ziemlich einsam. Es gab nur noch zwei Freunde, die meine Sympathie zu den Gesängen von Nico und ihrem fußbetriebenen Harmonium teilten. Doch wie viele Fans hat Nico eigentlich im Kahnawà:ke-Reservat? „Ich glaube, ich bin der einzige“, erwiderte Akwiratékha, ohne zu zögern. Und wie viele Menschen leben da? „Es gibt insgesamt 35.000 Mohawks.“ In Wolfsburg leben so um die 120.000 Einwohner. Geteilt durch drei Nicofans, kommt etwa das Gleiche heraus wie in Kahnawà:ke. Durchschnittlich einer oder eine auf knapp vierzigtausend Einwohner.

Vier Jahre später, im Juli 2006, besucht mich Akwiratékha in Berlin. Wir fahren mit Rädern zum „Friedhof der Namenlosen“, auch bekannt unter dem Namen „Selbstmörderfriedhof“. Hier, mitten im Grunewald, gleich hinter dem Teufelssee, sind Nico und ihre Mutter begraben. Auf dem schwarzen Grabstein steht: Katharine Päffgen und Christa Päffgen NICO. Sich herumschlängelnder Efeu lässt den kleinen Stein fast verschwinden. Akwiratékha pflückt ein Efeublatt, um es als gepresste und getrocknete Erinnerung mit nach Hause zu nehmen. Auf dem Heimweg übersetzt er auf dem Fahrrad singend „All Tomorrow’s Parties“ – eine Coverversion von Nicos Velvet-Underground-Song in Mohawk, einer Sprache, die heute von etwa dreitausend, überwiegend älteren Menschen gesprochen wird: „Nahò:ten èn:iontste ne iakó:ten tsi enióhrhen’ne enhatinenhronniánion.“

[1] In diesem Zusammenhang ist interessant zu wissen, dass Wegener zwar selbst in Žingvellir war, dort aber nicht auf seine Drifttheorie gekommen ist und Island auch nie in diesem Zusammenhang erwähnt hat. Seine Theorie baute er auf die Ähnlichkeiten der Kontinentalränder und durch das Studium von Tiefseekarten (Jón B. Atlason).

[2] Selbstbezeichnung der Mohawk.

WOLFGANG MÜLLER, Jahrgang 1957, war in den Achtzigern mit der recht seltsamen Band Die Tödliche Doris unterwegs. Später machte er als Elfenexperte die Runde durch deutsche Talkshows. Er veranlasste auch die isländische Erstübersetzung des Goethe-Werkes „Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären“. Müller lebt abwechselnd in Berlin und Reykjavík. „Der Friedhof der Namenlosen“ ist ein Kapitel seines eben erschienenen Buches „Neues von der Elfenfront. Die Wahrheit über Island“, Edition Suhrkamp, 308 Seiten, 11 Euro