: berliner szenen Karneval der Verpeilten
Unter Schamanen
Der diesjährige „Karneval der Verpeilten“ stand unter dem Titel „Nichtantizipierbarkeit“. Das sperrige Wort stand auf einer mit Blümchen geschmückten Fahne, die ein Mann mit roter Fellmütze zwischen zwei Lautsprecher geklemmt hatte, als der „Dritte Raum“ grad spielte. Das war der musikalische Höhepunkt der „Umsonst & Draußen“-Technoparty, und es war schon Abend. Eben hatten wir noch darüber gesprochen, woher die vielleicht dreitausend Leute wohl kämen, die den Park hinter dem Planetarium an der Prenzlauer Allee so angenehm bevölkerten. G. hatte auf Hartz IV von hier getippt, ich meinte auch Pflegepersonal und Studenten gesehen zu haben. Das Wort „Nichtantizipierbarkeit“ schien studentischen Einfluss zu beweisen. Der Mann, der die Fahne dort hingehängt hatte, sei aber bestimmt kein Student, sagte G. Das sehe man sofort. Wahrscheinlich war er von einer Ethnosoziologie studierenden Freundin beauftragt worden, sie aufzuhängen. Er gehörte zu einem kleinen Stamm, der auf zwei Decken am Rande des Tanzplatzes campierte. Es waren braungebrannte Schamanen, alte und junge Hippies, sympathische Mitkreuzberger und mittendrin die Ex-Loft-Betreiberin Monika Döring als Stammesälteste.
Bis zum Abend war alles sehr schön, relaxed und angenehm. Das Publikum zitierte vierzig Jahre unmarxistische Subkultur, manche hatten sich verkleidet. Als Bussi-Bär, Krankenschwester, Nonne oder Gaukler. Leider endete die Veranstaltung mit Streitigkeiten auf der Bühne. Ein Sänger beschimpfte seinen DJ, es gab Tohuwabohu, und die letzte Stunde tanzten wohl 20 Mitarbeiterinnen zu spontan ausgedachten Choreografien und aktuellen Clubhits vom Band, um zu retten, was noch zu retten war.
DETLEF KUHLBRODT