: Das fatale Fortleben der verbrecherischen Ideologie
NS Journalist Thomas Gnielka hat maßgeblich zur Eröffnung der Auschwitz-Prozesse beigetragen – seine Schriften werden heute in Berlin vorgestellt
„Lügenpresse“ heißt das Unwort des Jahres. Damit wird einmal mehr der Blick auf einen Untoten gerichtet: der Nationalsozialismus in Sprache und Denken der Gegenwart. Vor Kurzem ist ein faszinierender kleiner Band mit dem Titel „Die Geschichte einer Klasse“ erschienen, in dem der Schriftsteller und Journalist Thomas Gnielka, der maßgeblich zur Vorbereitung der Auschwitz-Prozesse beitrug, eine These formuliert, wie der NS nach dem Zusammenbruch seines realen völkischen Projekts in die Köpfe kam.
Thomas Gnielka ist fünfzehn, als er im Sommer 1944 mit seinen Schulkameraden als Luftwaffenhelfer dienstverpflichtet wird. Erst wird ihre Batterie in Deutschland eingesetzt. Dann sollen die Gymnasiasten das Werk der IG Farben bei Auschwitz schützen. Was Thomas Gnielka dort erlebt, lässt ihn nie wieder los. Als Journalist beschäftigt er sich nach dem Krieg mit dem, was die Gesellschaft verdrängte.
Ein Überlebender, Emil Wulkan, übergibt dem jungen Journalisten eines Tages Erschießungslisten aus Auschwitz. Das Material ermöglicht dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Eröffnung eines Verfahrens. Thomas Gnielka hat das Ende des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses aber nicht mehr erlebt. Er hatte Krebs und starb 1965 im Alter von 36 Jahren.
Thomas Gnielkas Aufklärungsarbeit ist inzwischen im Spielfilm „Im Labyrinth des Vergessens“ gewürdigt worden, der jüngst im Kino lief. Zudem erschien kürzlich ein Band, in dem einige von Gnielkas Artikeln zum Frankfurter Prozess nachzulesen sind. Gnielka hatte den Blick fürs Wesentliche, ließ sich nie zu Kitsch oder Pathos verleiten.
Das Tolle an dem Band ist, dass er das Romanfragment „Die Geschichte einer Klasse“ enthält. Es ist 72 Seiten lang, wesentliche Teile der Erzählung spielen im letzten Kriegsjahr. Gnielka erzählt darin lakonisch, knapp und präzise, was er mit seinen Schulkameraden erlebt hat. Sie kommen aus dem Kant-Gymnasium in Berlin-Spandau, „das in ganz Deutschland für seine antinationalsozialistische Einstellung bekannt ist“, wie Gnielka im ebenfalls überlieferten Exposé schreibt.
Als Luftwaffenhelfer erleben sie, was Nazideutschland mit seinen Feinden macht. Die angeblichen Verbrecher und Untermenschen, die für die Batterie der Gymnasiasten Geschützstellungen ausbauen müssen, entpuppen sich als Intellektuelle, Wissenschaftler und Politiker. Für einen der Schulkameraden sind diese abgemagerten Figuren, die sich um Zigarettenkippen prügeln, keine Menschen mehr. Auch der Ich-Erzähler kennt den Gedankengang: „Ein Körper wie ein Abdeckergaul, muss ich denken.“ Doch sein Mitgefühl wird dadurch nicht ausgelöscht. Später beherbergt Thomas Gnielka viele Überlebende in seinem Haus.
In knappen Dialogen zeichnet Gnielka Psychogramme der Mitschüler, Vorgesetzten und der älteren Soldaten. Es geht dem Autor darum, „etwas über das Schicksal all derer zu sagen, die in den letzten Kriegsjahren im Kindesalter eingezogen und an die Front geworfen wurden. Ich glaube, dass dies notwendig ist, da sich bis heute noch niemand mit diesem Thema beschäftigte“, wie er im Exposé schreibt. Im Frühjahr 1952 lädt ihn die Gruppe 47 ein, aus dem Manuskript zu lesen.
„Die Geschichte einer Klasse“ soll bis ins Jahr 1950 reichen und „die gewaltsame Verformung und Missbildung der Seele dieser Kinder“ aufzeigen. Am Ende formuliert Gnielka die These, die ehemaligen Luftwaffenhelfer „suchten nach dem Zusammenbruch nach den neuen, echten Bindungen und Idealen, die man ihnen versprochen hatte, und fanden sie nicht.“ Dieses Scheitern hat eine paradoxe Folge: „So wird das Regime, das sie früher auf Grund ihrer Erziehung verabscheuten, zum Ideal.“
Für Gnielka lebte das Denken des NS auch, vielleicht sogar gerade in solchen jungen Leuten fort, die aus eigener Anschauung die verbrecherische Realität des Nationalsozialismus kannten. Leider hat er diese so skizzierte Idee nicht mehr ausführen können. Vielleicht war das Fortleben nationalsozialistischen Denkens in den Kindern, die in den Fünfzigern erwachsen wurden, für die deutsche Gesellschaft fataler als die Präsenz alter Nazis.
ULRICH GUTMAIR
■ Thomas Gnielka: „Die Geschichte einer Klasse. Als Kindersoldat in Auschwitz“. Europäische Verlagsanstalt, 184 Seiten, 19,90 Euro. Heute um 20 Uhr stellt Kerstin Gnielka im Literaturhaus Fasanenstraße, Berlin, das Buch ihres Vaters vor