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Archiv-Artikel

Staat auf der Anklagebank

Wenn es nach der Bundesanwaltschaft gegangen wäre, hätte es diesen Prozess nicht gegeben. Er firmiert zwar unter RAF-Prozess, immer mehr geht es aber auch um die Rolle der Staatsschutzorgane. Eine kritische Zwischenbilanz des Stuttgarter Becker-Buback-Prozesses nach einem Jahr

von Thomas Moser

Am 30. September 2010 begann vor dem Oberlandesgericht Stuttgart die Hauptverhandlung gegen das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker. Die Anklage wirft ihr vor, an der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und seiner beiden Begleiter Georg Wurster und Wolfgang Göbel am 7. April 1977 beteiligt gewesen zu sein. Becker soll aber nicht zum eigentlichen Mordkommando gehört, sondern lediglich den Tatort ausgespäht und hinterher Bekennerschreiben verschickt haben. Sie steht aber beim Nebenkläger Michael Buback, Sohn des Ermordeten, wie einigen anderen Beobachtern des Falles vor allem im Verdacht, die tödlichen Schüsse vom Soziussitz des Tatmotorrads aus abgegeben zu haben.

Der Verdacht stützt sich auf die Aussagen von Zeugen, die auf dem Motorrad eine Frau als Beifahrerin und Schützin wahrgenommen haben wollen. Und er stützt sich darauf, dass Becker und Günter Sonnenberg bei ihrer Festnahme am 3. Mai 1977 in Singen die Tatwaffe sowie einen Schraubenzieher aus dem Bordwerkzeug des Tatmotorrads bei sich hatten. Die Bundesanwaltschaft dagegen teilt diese Sicht nicht. Für sie saßen auf dem Tatmotorrad zwei Männer und unter keinen Umständen Verena Becker.

Der Prozess ist mit den herkömmlichen Vorstellungen von RAF-Verfahren nicht zu verstehen. Man muss wissen, dass Verena Becker ab einem bestimmten Zeitpunkt Informantin des Verfassungsschutzes (VS) war. Gesichert ist, dass sie ab 1981 umfangreiche Aussagen vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln gemacht hat. Unklar ist bisher, wie lange dieser Kontakt ging – und vor allem, wann er begann. Bestand er bereits vor 1977, würde das bedeuten, dass möglicherweise eine VS-Informantin in den Mord am höchsten Ermittler der Bundesrepublik verwickelt war oder dass der Inlandsnachrichtendienst mindestens Informationen über das Attentat gehabt haben müsste. Auf der Anklagebank in Stuttgart sitzt also möglicherweise nicht nur eine Terroristin, sondern auch der Staat, genauer: der Staatsschutz. Das macht das gesamte Verfahren so brisant. Und das könnte auch das seltsame Verhalten der Anklagebehörde im Prozesssaal erklären.

Eine Frau auf dem Soziussitz habe geschossen

Da ist zum Beispiel die Augenzeugin Gabriele W. Sie arbeitete damals beim Versorgungsamt des Bundes und der Länder in Karlsruhe und sagt, sie habe das Attentat vom geöffneten Fenster ihres Dienstzimmers aus beobachtet. Eine Frau auf dem Soziussitz habe geschossen; das Motorrad habe das Auto umrundet, der Fahrer sei ausgestiegen, habe „Mama, Mama!“ gerufen und sei dann zusammengebrochen. Diese Aussage zieht die offizielle Tatversion von den zwei männlichen Tätern in Zweifel. Die Bundesanwaltschaft ist nicht an den Beobachtungen der Zeugin interessiert, sondern geht sie massiv an, stellt manipulative Fragen, versucht ihre Glaubwürdigkeit zu erschüttern und bezichtigt sie gar der Lüge. Wenn aber eine staatliche Behörde nicht vorbehaltlos an der Wahrheitsfindung interessiert ist, sondern offensichtlich an der Aufrechterhaltung ihrer Tatversion, kommt das einem Anschlag auf den Rechtsstaat gleich.

Und Verena Becker, die Angeklagte, wird gleich von zwei Seiten verteidigt: einmal von ihren persönlichen Verteidigern und dann von den Vertretern des Staates in den roten Roben ihr gegenüber. Mir erklärt der Ehemann von Frau W. hinterher, sie sei mit exakt dieser Schilderung der Tat damals nach Hause gekommen und erzähle sie seither genau so immer wieder. Die Schilderung von Gabriele W. wird zum Beispiel von Manfred W. bis in Einzelheiten hinein bestätigt. Er saß in einem VW-Bus bei roter Ampel an der Kreuzung, auf der das Attentat geschah. Auch er hat eine Frau als Schützin wahrgenommen, auch er sagt, das Motorrad habe das Buback-Auto umrundet, der Fahrer sei noch selbstständig ausgestiegen und dann zusammengebrochen.

Gabriele W. hat nach eigener Darstellung unmittelbar nach dem Anschlag ihre Beobachtungen aufgeschrieben und den Zettel einem Beamten des BKA gegeben. Doch in den Ermittlungsakten fehlt ein solcher Aufschrieb. Stattdessen existiert ein Vernehmungsprotokoll mit ihr, in dem aber nicht von einer Frau auf dem Soziussitz die Rede ist. Das Protokoll trägt allerdings keine Unterschrift von Frau W. Sie bestreitet vor Gericht auch, diese Aussagen gemacht zu haben. Nach ihr kommt der Polizeibeamte, der das Protokoll gefertigt hatte, in den Zeugenstand. Es stellt sich heraus, dass sich Frau W. und der Beamte gar nicht kennen. Ungereimtheiten, die sich im Laufe der Beweisaufnahme dramatisch häufen.

Da ist das Beispiel der Familie F. Sie war am Vortag des Attentats, am 6. April 1977, in Karlsruhe mit dem Auto unterwegs. In der Nähe des Bundesverfassungsgerichtes hielt ein Motorrad kurz vor ihnen. Laut Vater F. ein „großer Fahrer und eine zierliche Person mit femininer Statur“ auf dem Sozius. Auf dem Schoß hatte sie eine Tasche oder einen Sack. Auf dem Gehweg stand Generalbundesanwalt Buback, den die Familie persönlich kannte, inmitten einer Gruppe von Leuten. Nach einigen Sekunden fuhr das Motorrad davon. Nach dem Anschlag am folgenden Tag meldete die Familie ihre Beobachtungen der Polizei. Das Motorrad, das sie gesehen hatten, wurde später als das Tatmotorrad identifiziert.

Doch nun gibt es folgende Merkwürdigkeit: In den Ermittlungsakten zum Mordfall Buback findet sich nicht nur diese Zeugenaussage der Familie F. vom Tattag, sondern auch eine angebliche Nachvernehmung am 12. Mai 1977, also nach der Festnahme von Verena Becker, durch einen BKA-Beamten in der Wohnung der Familie. Dabei hätten die Zeugen erklärt, sich an den Vorfall vom Vortag des Attentats nicht mehr genau zu erinnern, zum Beispiel auch daran nicht, eine Frau als Soziusfahrerin wahrgenommen zu haben. Wie bei Gabriele W. ist diese angebliche Nachvernehmung von der Familie F. nicht unterschrieben. Als Vater Georg F. jetzt als Zeuge geladen ist, bestreitet er, dass es diese Nachvernehmung im Mai 1977 gegeben hat, obendrein in seiner Wohnung.

Georg F. zeigt sich außerdem regelrecht empört darüber, was er bei dieser angeblichen Nachvernehmung alles ausgesagt beziehungsweise nicht ausgesagt haben soll. Er wiederholt stattdessen seine Aussage, auf dem Soziussitz eine „zierliche Person mit femininer Statur“ wahrgenommen zu haben. Georg F., heute 74 Jahre alt, war immerhin Schulrat und als Berater für das Kultusministerium in Baden-Württemberg tätig. Doch wie kam dieses angebliche BKA-Zeugenprotokoll zustande? Auch der BKA-Mann, der das Protokoll vom 12. Mai 1977 unterschrieben hat, wird als Zeuge vernommen. Er sagt nur, er könne sich nicht sicher an eine Vernehmung der F.s erinnern. Wenn es aber in der Akte stehe, sei es so gewesen.

Auch die Bundesanwaltschaft spielt im Fall der Familie F. eine zwielichtige Rolle. Im Mai 2007 wurden die F.s bei der Behörde in Karlsruhe erneut als Zeugen vernommen. Dabei bestritten sie auch, dass es diese angebliche Nachvernehmung durch das BKA am 12. Mai 1977 gegeben habe. Bei der Jahrespressekonferenz der Bundesanwaltschaft im Dezember 2008 kam Bundesanwalt Rainer Griesbaum auf die Zeugen F. zu sprechen. Er behauptete, sie hätten bei ihrer Vernehmung im Mai 1977 keine klare Erinnerung an den Vorfall vom 6. April 1977 gehabt, während sie sich 30 Jahre später, 2007, sehr genau daran erinnerten und zum Beispiel eine Frau auf dem Sozius gesehen haben wollten.

Griesbaum fügte süffisant hinzu, jeder könne sich eine eigene Meinung über solche Zeugen bilden. Er suggerierte, die Zeugen hätten sich 2007 vom öffentlichen Diskurs beeinflussen lassen und deshalb von einer Frau auf dem Soziussitz gesprochen. Damit qualifizierte er sie ab. Was Griesbaum vor der Presse verschwieg, ist, dass die Zeugen bestreiten, ebenjene Aussage im Mai 1977 getan zu haben. Die Bundesanwaltschaft hat dadurch offenbar die Öffentlichkeit getäuscht.

Laut Stasi arbeitete Becker seit 1972 für den Verfassungsschutz

Es war nicht das erste Mal, dass die Behörde es im Verfahren Becker-Buback mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Rainer Griesbaum, Abteilungsleiter Terrorismus in Karlsruhe und immerhin stellvertretender Generalbundesanwalt, ist am 9. Juni 2011 selber als Zeuge geladen gewesen. Dabei geht es unter anderem um Stasi-Akten und die Erkenntnisse ehemaliger MfS-Offiziere über Becker. „Becker wird seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen unter Kontrolle gehalten“, hatte die Stasi notiert. Der Aktenfund aus der Stasi-Unterlagen-Behörde ist bekannt und wird in den Medien immer wieder erwähnt.

Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat im Zuge ihrer Ermittlungen gegen Becker diese Akten gesichtet und einen früheren MfS-Offizier befragt, wie die Formulierung „unter Kontrolle halten“ zu verstehen ist. Der Mann habe laut Bundesanwaltschaft erklärt, „unter Kontrolle halten“ bedeutete für das MfS nur, Erkenntnisse über eine Person zu besitzen. Das alles referierte Bundesanwalt Griesbaum im Dezember 2008 auf der erwähnten Jahrespressekonferenz der Bundesanwaltschaft ausführlich. Ihr Fazit: daraus lasse sich kein Kontakt Beckers zum Verfassungsschutz herleiten.

Bei der Zeugenvernehmung Griesbaums nun am 9. Juni vor dem OLG in Stuttgart will die Nebenklage wissen, ob er Unterlagen des MfS bezüglich Becker und anderer RAF-Mitglieder eingesehen habe und welche Erkenntnisse seine Behörde gewonnen habe. Griesbaum weicht aus und antwortet, er sei Abteilungsleiter und nicht Sachbearbeiter. Er wisse, dass es dazu Vorgänge gibt, Details könne er aber nicht nennen. Möglich, dass der Bundesanwalt verhindern wollte, dass die Bewertung dieser Stasi-Unterlagen durch seine Behörde hinterfragt und kritisiert würde. Die Formulierung „unter Kontrolle halten“ bedeutete nämlich für die Stasi mehr, sie war wörtlich zu nehmen. Entscheidend ist aber, dass Griesbaums Aussage vor Gericht seinen Ausführungen vor der Presse im Jahr 2008 widerspricht.

Ein Chefermittler will sich nur versprochen haben

Für eine der Widersprüchlichkeiten aufseiten der staatlichen Organe steht auch Rainer Hofmeyer. Er war 1977 Leiter der Sonderkommission Buback beim Bundeskriminalamt. In einem SWR-Radiofeature mit dem Titel „Verschlusssache Buback“ von Juni 2008 kommt Hofmeyer mit folgender Aussage zu Wort: Während das BKA 1977 öffentlich Christian Klar, Günter Sonnenberg und Knut Folkerts als die Attentäter Siegfried Bubacks benannte, sei tatsächlich nach Sonnenberg, Klar und Verena Becker gefahndet worden.

Diese Aussage wird seit drei Jahren immer wieder zitiert. Doch jetzt, im August 2011, widerruft sie der Kriminalbeamte im Ruhestand auf einmal vor Gericht. Der Name Becker sei ihm in dem Interview mit dem SWR versehentlich „rausgerutscht“. Das Ganze ist wenig glaubwürdig. Holger Schmidt, der Autor des Features, erklärt mir, Hofmeyer sei die Aussage „natürlich nicht rausgerutscht“. Es habe damals ein Vorgespräch für das Interview gegeben; Hofmeyer habe gewusst, worum es gehe, er habe bewusst und willentlich im Interview so geantwortet.

Und dann gibt es noch zwei Zeugen, die unabhängig voneinander erklären, aus dem Mund von Christian Klar gehört zu haben, Verena Becker sei die Mordschützin gewesen. Erstens Andreas K., der Klar im Gefängnis in Bruchsal kennenlernte. Das war im Jahr 2004 und wurde im Herbst 2009 bekannt. Und zweitens Peter B., der zum Umfeld der RAF zählte und der gleichzeitig Informant des Landesamtes für Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz war. Seinen Kontaktleuten vom LfV berichtete er auch von der Aussage Klars über Becker. Das war 1979. Im Sommer 2009 informierte B. dann auch noch die Bundesanwaltschaft darüber.

Beide Seiten schweigen. Verena Becker macht im Prozess vor dem OLG Stuttgart keinerlei Angaben. Eine Reihe ehemaliger RAF-Mitglieder, unter anderen Brigitte Mohnhaupt, Knut Folkerts, Günter Sonnenberg und jetzt am 15. September Christian Klar, taten es ihr gleich. Ganz brav erscheinen sie zum Prozess, und ganz kleinlaut nehmen sie dort ihr Aussageverweigerungsrecht in Anspruch. Seit der Prozess vom Hochsicherheitsgebäude in Stammheim ins Gerichtsgebäude in der Stuttgarter Innenstadt verlegt wurde, geht es ohne große Sicherheitsvorkehrungen zu. In den Pausen stehen alle auf dem Flur nah beieinander.

Ich stelle mich neben Günter Sonnenberg und frage ihn, ob es ihn nicht interessiert, wie viele Leute der Verfassungsschutz in der RAF hatte. Er fragt, was das soll und wer ich sei und wird sofort von einem Kreis von Sympathisanten abgeschirmt. Von Christian Klar erlaubt das Gericht zwar Film- und Fotoaufnahmen, verfügt aber gleichzeitig, dass sein Gesicht nur verpixelt gezeigt werden dürfe. Er wird nicht als Person der Zeitgeschichte behandelt, sondern als Privatmann.

Bei ihm versuche ich es erneut und frage ihn beim Verlassen des Gerichtsgebäudes, warum er schweige und die Geschäfte des Verfassungsschutzes betreibe. Auch er hat ein halbes Dutzend junger Männer und Frauen um sich, die dann die anwesenden Fotografen und auch mich tätlich angreifen, wegdrängen, schlagen. Und zwar unter den Augen der Polizei. Erst nach mehrmaliger Aufforderung greifen die Beamten ein.

Eine inszenierte Show der Ermittler im Gerichtssaal

Die Auftritte der Ex-RAF-Mitglieder tragen zur Wahrheitsfindung nichts bei. Aber ihnen kommt eine Funktion zu: Sie werden von der Bundesanwaltschaft wie von Teilen der Presse benutzt, um das herkömmliche Bild von der RAF und ihren unverbesserlichen Mitgliedern, gegen die der Staat sich wehre, wieder in Szene zu setzen. Bundesanwalt Walter Hemberger wendet sich demonstrativ an die RAFler und fordert sie auf, Michael Buback anzuschauen. Der habe das Recht zu erfahren, wer seinen Vater erschoss. Eine inszenierte Show, bei der sich der Gedanke aufdrängt, dass von den Widersprüchlichkeiten und den Unterlassungen der Ermittler im Buback-Becker-Fall abgelenkt werden soll.

Denn nicht nur die Ex-RAFler schweigen, sondern eben auch die Staatsschutzorgane. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und sein Dienstherr, das Bundesinnenministerium, weigern sich, dem Gericht, trotz wiederholtem Antrag, die Akten über Verena Becker zur Verfügung zu stellen. Und sie weigern sich, geschwärzte Stellen im sogenannten Gnadenheft, in dem die Begnadigung Beckers 1989 begründet wird, zu entschwärzen. Auch das Bundesjustizministerium, das vom Gericht als seine oberste vorgesetzte Stelle angerufen und um Unterstützung gebeten wurde, lehnte das kategorisch ab.

Der Prozess gegen Verena Becker entwickelt sich immer mehr zu einem Prozess gegen die Ermittlungs- und Sicherheitsorgane der Bundesrepublik.

Thomas Moser ist freier Journalist und arbeitet für die ARD-Radioanstalten. Er beobachtet den Prozess in Stuttgart von Anfang an.