24 stunden spreebogen, folge 15
: Von 14 bis 15 Uhr

Blick nach oben (nicht zum Arbeitszimmer der Kanzlerin im siebten Stock ihres Amtes, sondern auf dieses sich grandios auftürmende Wolkenspektakel am Berliner Himmel). Und Entwarnung. Es wird wohl trocken bleiben. Das ist gut. Denn dies ist Teil zwei des Mittagspausentests am Spreebogen. Die Frage ist jetzt: Kann man sich mit einem Buch in der Hand dort irgendwo hinsetzen und ein Stündchen unbehelligt lesen? Antwort: Man kann. Sehr gut sogar. So gut, dass man wiederum nicht weiß, ob das wirklich schmeichelhaft für ein Regierungsviertel sein kann.

Es gibt jedenfalls viele Möglichkeiten, der Großstadthektik zu entkommen und ein bisschen abzuschalten. Allein auf einer grünen Wiese liegen, direkt an der Spree auf Steinen sitzen (so wie in den „Buddenbrooks“ Morten Schwarzkopf in Travemünde), ein lauschiges Plätzchen unter Bäumen finden – all das ist möglich im politischen Zentrum der drittgrößten Industrienation dieser Erde. Alles, was man üblicherweise mit dem Politikbetrieb verbindet, ist in die Gebäude selbst verlegt. Das Quirlige, das Aufgeregte, das Testosterongeschwängerte – man kennt es eher aus dem Fernsehen als aus direkter Anschauung vor Ort. Von außen wirken Kanzleramt, Paul-Löbe-Haus und all die anderen Residuen der Macht sogar oft wie ausgestorben; und die Touristen, neben den Politikern die zweite Problemgruppe bei so einer Mittagspause, drängeln sich entlang einer Route, die vom Hauptbahnhof am Kanzleramt vorbei zum Reichstag führt. Einmal 20 Meter zur Seite getreten, und schon hast du deine Ruhe.

Eine freie Bank findet man unter der Woche auch immer irgendwo. Draufgesetzt, Buch auf den Schoß, und es umfängt einen die schönste Kurortatmosphäre mit schlendernden Paaren und zutraulichen Spatzen. Bald allerdings irritieren akustische Phänomene. Erst gibt es Touristenführer-Ansagen, die nicht stimmen können. Vom Fernsehturm springen sie zum Urbanhafen am Landwehrkanal und dann zum Technikmuseum; das kann nicht sein, die beiden letzteren Stationen sind ganz woanders. Dann Gelächter und Geschnatter, Geklatsche und Gezwitscher. Dann wieder Stille. Nach zehn Minuten geht alles von vorne los.

Also klappt es mit dem Lesen doch nicht. Stattdessen spähende Rundumblicke. Es dauert etwas, bevor ich die Lautsprecher sehe, die dezent am Geländer der Gustav-Heinemann-Brücke angebracht sind. Aber sobald ich sie sehe, ist alles klar. Eine Klanginstallation! Geradezu rührend, was sich dieses Regierungsviertel alles einfallen lässt. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 15 bis 16 Uhr: am kommenden Samstag