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Archiv-Artikel

„Auf die Zuhörer reagieren“

VORTRAG Die Jahrtausende alte Tradition des Erzählens wird in ihrer Vielfalt vorgestellt

Johannes Merkel

■ 72, bis 2007 Professor für Vorschulerziehung an der Uni Bremen, Autor einer „Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens“.

taz: Herr Merkel, spielen mündliche Erzählungen heute überhaupt noch eine Rolle?

Johannes Merkel: Das Bedürfnis nach Erzählungen ist zweifellos da. Es wird weltweit erzählt, an jeder Straßenecke. In Bremen gibt es zum Beispiel eine Veranstaltungsreihe im Schlachthof: Geschichten im Turm. Oder das Erzählfestival in Gröpelingen. Solche Formen findet man in ganz Deutschland in vielen Variationen. Außerdem gibt es pädagogische Einrichtungen, die ihren Fokus aufs Erzählen richten.

Wozu ist Erzählen denn gut?

Es wird eine Unmittelbarkeit geschaffen, die andere Medien nicht herstellen können. Besonders interessant ist das für die Sprachbildung von Kindern, die in der heutigen Mediengesellschaft anders sprechen und schreiben lernen. Kinder hören bei Erzählungen ganz genau zu, wodurch sie lernen, sich auszudrücken. Wichtig ist auch die Erfahrung, dass ein Erzähler auf Signale des Zuhörers reagiert. So entsteht ein gemeinschaftliches Gefühl. Historisch waren Erzähler in Hochkulturen wie China Vorbilder, die von historischen Ereignissen berichteten.

Und dabei ist die soziale Situation des Erzählens zentral?

Genau, es geht sowohl um die Erzählung als auch um den Erzähler und die Reaktion der Zuhörer. Der Erzähler präsentiert sich körperlich und vermittelt seine Werte und Anschauungen: Ähnlich wie beim Theater ist es das leibhaftige Dasein und Auftreten. Der Inhalt ist jedes Mal ein Stück anders, man improvisiert den Text im Moment des Erzählens. Hier liegt auch ein Fehler vieler ethnologischer Arbeiten: Die Texte werden getrennt von den sozialen Kontexten, in denen sie erzählt wurden, untersucht. INTERVIEW: MERLIN PRATSCH

Zur Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens: 20 Uhr, Gästehaus der Uni, Teerhof 58