: Würde und Stolz
HUNDERT Sie haben das 20. Jahrhundert überlebt. Eine Ausstellung in Schöneberg erzählt die Geschichten Hundertjähriger
Alle von ihnen haben zwei Weltkriege überstanden, haben den Wiederaufbau und schließlich die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands miterlebt. Hinter den Protagonisten der Ausstellung „Vielleicht bin ich ja ein Wunder – Hundertjährige in Tempelhof-Schöneberg“ liegt ein turbulentes Jahrhundert voller Geschichte und Verluste.
An die 200 Männer und Frauen, die älter als 100 Jahre sind, leben in Tempelhof-Schöneberg – nur in Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf leben mehr. Elf von ihnen wurden für die Schau im Schöneberger Rathaus porträtiert. Neben den Fotografien hängen kurze Interviews, in denen die Alten über ihre Vita erzählen. Beeindruckende, humorvolle und erschütternde Geschichten haben alle elf zu erzählen. Auch ihre Gesichter zeugen von einem turbulenten Leben, besonders die Geschehnisse im Krieg blieben in den Köpfen haften.
Otto G., der am 25. Oktober 1909 zur Welt kam, könnte glatt für 70 durchgehen. Beinahe faltenfrei lacht er wie ein Lausbub übers ganze Gesicht. Otto hat viel zu erzählen. Er hat Maler gelernt, im Krieg wurde er aber zum Feuerwehrmann ausgebildet. Im Winter 1947 erlebte er den großen Brand in einem Spandauer Tanzlokal mit, konnte aber nichts tun, weil die Schläuche eingefroren waren. Bis heute wäscht er alle zwei Monate seine Vorhänge selbst. Er will unabhängig bleiben.
Vera B. wurde am 21. Juni 1910 in Danzig geboren. Ihr jüdischer Vater wurde im Konzentrationslager getötet, und ihre Mutter ist bald darauf vor Schmerz gestorben. Nachbarn wechstelten vor ihr die Straßenseite, und sie wurde angespuckt. Vera hat schütteres weißes Haar, Falten marmorieren ihr Gesicht. Trotz ihres Alters hat sie einen erstaunlich wachen Blick, sie scheint völlig mit sich im Reinen zu sein.
Erwin H. kämpfte in Russland und wurde gefangen genommen. Als Kriegsgefangener arbeitete er in einem Kohleschacht. Als er nach Berlin zurückkam, war seine kleine Tochter tot. Sein älterer Bruder wurde 103 Jahre alt.
Marion Schütt hat die neuen Porträts der alten Menschen fotografiert. Bilder der 100-Jährigen von früher und Fotos aus deren privatem Umfeld geben einen detailreichen Einblick in ihr Leben. Ergänzt wird die Ausstellung durch die „Galerie der Hundertjährigen“, die der Arzt Lothar Adler seit 1999 von seinen Patienten angefertigt hat, sowie einige Bilder der Serie „Jahrhundertmensch“ von Karsten Thormaehlen. Sein Porträt der 101-jährigen Erika E., die vor dunklem Hintergrund als wunderschön gealterte Diva in Szene gesetzt wurde, ist mit dem Taylor Wessing Photographic Portrait Prize 2011 ausgezeichnet worden.
Sinn dieser dreiteiligen Ausstellung ist nicht, die Schwäche und Gebrechlichkeit der Alten zu zeigen, sondern die Schönheit des Alters in den Vordergrund zu stellen. Alle Fotografierten strahlen Würde und Stolz aus, viele haben ein wenig Melancholie, vielleicht in Hinblick auf vergangene Zeiten, im Blick, manch anderen merkt man ihre Gebrechen an. Fast scheint es, als würden sie schon auf ihr Ende warten. Ein Patentrezept für ein langes Leben liefern die Geschichten der Befragten nicht, jeder von ihnen ist tatsächlich ein kleines Wunder. LUISA DEGENHARDT
■ „Vielleicht bin ich ja ein Wunder – Hundertjährige in Tempelhof-Schöneberg“ ist bis zum 31. Oktober im Rathaus Schöneberg zu sehen. Der Eintritt ist frei