: Die individuelle Zeitung: Jeder bekommt sein eigenes Blatt
Als die Zeitung im heutigen Sinne entstand, herrschte uneingeschränkter Partikularismus: Die Blätter waren weltanschaulich geprägt, dienten bestimmten wirtschaftlichen beziehungsweise politischen Interessen oder verstanden sich gleich als Organ einer politischen Gruppierung - und später von Parteien. Die Auflagen waren klein, die Leserkreise elitär-bürgerlich.
Dann kam der Generalanzeiger: Ein Pressetyp für die neuen, des Lesens mächtigen Bevölkerungsschichten. Politisch neutral oder gleich ganz unpolitisch, wollte er den Bogen über alle Interessengruppen spannen. Ziel: Möglichst hohe Auflagen, möglichst viele LeserInnen. Der Individualismus, der die frühen Zeitungen ausgemacht hatte, war für gut hundert Jahre passé. Jetzt kommt er zurück. Nicht mehr in in erster Linie politisch-weltanschaulicher Gestalt. Sondern auf die Lebenswelten der LeserInnen bezogen - und immer stärker gepaart mit ergänzenden Onlineangeboten.
Service steht dabei hoch im Kurs, Ratgeber- und Serviceseiten decken bei manchen Regionalblättern selbst so bizarre Themen wie die artgerechte Haltung von Stabheuschrecken als Haustiere ab (Sächsische Zeitung).
Onlineforen mit Leserbeteiligung führen zur direkten Rückkopplung ins gedruckte Blatt: Seit 2005 ergänzt Opinio (Slogan: „Hier schreiben Sie“) die Rheinische Post aus Düsseldorf, einmal wöchentlich finden auch eine Opinio-Seite den Weg in die gedruckte Zeitung. Bei Welt-Debatte, dem Meinungsportal von Springers Welt, ist es ähnlich.
Weiter als bisher alle deutschen Zeitungen gehen die Vorarlberger Nachrichten aus Österreich. Das eher konservative Blatt versteht sich als „Bürgerplattform“: Hier sind beispielsweise an Lokalpolitik besonders interessierte LeserInnen gleich noch per Mailingliste miteinander ver- und in die Berichterstattung eingebunden. Was von den Vorgängen auf dem Rathaus in die Zeitung kommt, entscheiden so nicht mehr nur der Honoratiorenclubs aus Lokalpolitik und Lokaljournalisten. „Das setzt nicht nur die Bürgermeister, sondern auch uns als Redaktion unter Druck - wir müssen einfach noch besser auf die individuellen Bedürfnisse unserer Leser eingehen und bekommen von ihnen direkt eine Note“, sagt VA-Verleger Eugen A. Russ. Sein Blatt versucht so, jedem einzelnen Leser eine möglichst optimale Mischung zu bieten. Und hat mit dem Bürgerforum, regelmäßigen Stammtischen und Leservoten auch für Deutschland Vorbildfunktion. Russ ist immer wieder Gast auf bundesrepublikanischen Verlegerkongressen, wo sein Modell der durchindividualisierten Zeitung als zukunftsweisend gilt. Erst recht, seitdem die Vorarlberger Nachrichten 2006 beim 59. Weltkongress der Zeitungen in Moskau als “Tageszeitung des Jahres“ ausgezeichnet wurden. Steffen Grimberg