: Poliklinik meets Steiner
THERAPIE Ein Medizinisches Versorgungszentrum zeigt, was anthro- posophische Konzepte an sozialen Brennpunkten leisten können
VON ANSGAR WARNER
Der Weg auf den Spandauer Hahneberg lohnt sich. Fast neunzig Meter hoch türmt sich hier am nordwestlichen Rand Berlins ein Trümmerhaufen aus dem Schutt des letzten Weltkriegs.
Neunzig Höhenmeter tiefer sieht es hingegen nicht so rosig aus. Das liegt auch am hohen Verkehrsaufkommen auf der Heerstraße, die Spandau mit Berlin verbindet. Im Heerstraße-Nord genannten Sozialbauviertel dahinter leben mehr als 17.000 Menschen. Die Kaufkraft ist geringer, die Arbeitslosigkeit höher als im Berliner Durchschnitt. Dazu kommt ein hoher Anteil von Migranten. Nicht umsonst wurde das Viertel 2005 in das Quartiersmanagement genannte Sozialprogramm des Berliner Senats aufgenommen.
„Das Viertel hat nach der Wende einen extremen Gestaltwandel erlebt“, so der Spandauer Arzt Burkhard Matthes. „Seitdem die Mauer weg ist, sind viele Mittelschichtfamilien mit ihren Kindern raus auf’s Land gezogen. Im Gegenzug folgten viele Einquartierungen durch das Sozialamt. Man kann schon von prekären Verhältnissen sprechen, wenn 40 Prozent der Bewohner Hartz-IV-Empfänger sind.“ Matthes arbeitet bereits einige Jahre mitten im Kiez als Internist mit onkologischem Schwerpunkt. Sein Arbeitsplatz befindet sich im Medizinischen Versorgungszentrum Heerstraße-Nord. „Die Gründung geht zurück auf eine Initiative von engagierten linken Medizinern während der siebziger Jahre, sie war damals sehr umstritten: Das Vorbild waren die Polikliniken in der DDR.“
Seit der Gesundheitsreform sind solche Modelle einer breitgefächerten ambulanten Behandlung vor Ort nun auch in der Bundesrepublik ausdrücklich erwünscht. Mehr als tausend medizinischer Versorgungszentren existieren schon. Das Spandauer Beispiel zeigt, warum man sie braucht: Neben Streetworkern, Lerninseln in der Schule und einem Kulturzentrum ist das MVZ ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Lebensqualität im Kiez. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten ist enger als anderswo. „Ich mache viele Hausbesuche, durch die Zusammenarbeit mit der Pflege- und Sozialstation stehe ich oft sogar im täglichen Kontakt mit vielen Patienten.“
Zu den Besonderheiten gehört das Angebot anthroposophischer Therapien. Das MVZ ist mittlerweile sogar Mitglied im Kliniknetzwerk AnthroMed Berlin-Brandenburg. „Die große Frage ist allerdings: Wie macht man anthroposophische Medizin für Kassenpatienten zugänglich?“, gibt Matthes zu bedenken. Solche komplementären Anwendungen sind nämlich seit einigen Jahren nicht mehr erstattungsfähig. Manches geht jedoch trotzdem: „Wir haben hier jetzt eine Kunsttherapeutin, die von den Ärzten im MVZ bezahlt wird.“ Matthes ist überzeugt: „Anthroposophische Medizin bedeutet nicht nur Wellness für Wohlhabende, sondern kann auch unter schwierigen sozialen Bedingungen erfolgen.“
Zum Selbstverständnis der Ärzte des Spandauer MVZ gehört es auch, beim Management des Stadtteils mitzumischen. „Wir sitzen einmal monatlich am Tisch mit den Beteiligten“, erklärt Matthes. Dabei geht es dann etwa um die Schulkinder: „Viele Kinder kommen hungrig in den Unterricht, weil sie zu Hause keine warme Mahlzeit bekommen. Das liegt wiederum daran, dass es in vielen Familien ganz einfach am notwendigen Grundwissen fehlt.“ Die Lösung kann darin bestehen, Kochkurse für die Eltern anzubieten.
Gegen die allgemeine Tendenz der Prekarisierung anzukämpfen, wird allerdings immer schwieriger. „Wir können nur versuchen, den Menschen zu helfen, die eigene Biografie wieder in die Hand zu bekommen“. Ob diese Arbeit erfolgreich ist, merkt Matthes in vielen Fällen nur indirekt. „Gerade wenn jüngere Patienten nicht mehr in der Praxis erscheinen, bedeutet das ja wahrscheinlich, dass wir ihnen helfen konnten.“