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Archiv-Artikel

Wozu in die Zukunft schweifen?

Eine Uraufführung von Lera Auerbach ist wie ein Klangbad in der Musikgeschichte. Für das Musikfest Bremen hat sie ein „Russian Requiem“ geschrieben, dem die Beschränkung auf die Tradition anzuhören ist

Niemand kann verlangen, dass das musikalische Rad ständig neu erfunden wird. Bei Lera Auerbach, deren „Russian Requiem“ jetzt als Auftragsarbeit des Bremer Musikfestes und der Bremer Philharmonischen Gesellschaft uraufgeführt wurde, ist ein solcher Anspruch schon angesichts ihres gewaltigen Arbeits-Outputs aussichtslos: Allein im vergangenen Jahr bewerkstelligte die 34-jährige Sibirierin weltweit zehn Uraufführungen, nebenbei gibt sie unermüdlich Klavierkonzerte.

Als Pianistin und Komponistin in Personalunion verkörpert Auerbach das musikalische Idealbild des 19. Jahrhunderts. Auch die Begeisterung des bürgerlichen Musikpublikums für Auerbach erinnert ein wenig an dessen romantizistischen Geniekult. Vor zwei Jahren bekam Auerbach mit dem Reinbeker Hindemith-Preis einen der höchstdotierten deutschen Komponistenpreise. In Hamburg machte sie mit Ballettmusiken für John Neumeier auf sich aufmerksam.

„Russian Requiem“ ist eine 18-teilige Montage aus Lyrik und Prosa unter anderen von Puschkin, Achmatowa, Mandelstam. Deren gemeinsames Thema: der Terror des repressiven russischen Staatsapparats von den Zaren bis zu den Sowjets. Das hat Wucht und Eindringlichkeit. Unterm Strich mangelt es der Vertonung dieser intensiven Texte allerdings an Differenziertheit. Immer wieder müssen die Bässe des Lettischen Staatschores für einen schwarz grundierten Klangteppich sorgen, auf dem sich die Knaben-Soprane in umso lichterer Unschuld ergehen können. Das Ausstellen der Effekte erinnert an Filmmusik, sinistres Glockenspiel und knallende Pizzicati inklusive. Nicht zufällig liebt Auberbach die Glissandi: Das stufenlos gleitende „Rutschen“ zwischen den Tönen mutiert vom musikalisch ohnehin nur mäßig interessanten Schmiermittel zum Selbstzweck.

Das alles wird von den Bremer Philharmonikern unter Leitung von Tonu Kaljuste mit viel Engagement umgesetzt. Doch im Rückblick erscheinen die chaotischen Klangfelder des Beginns als plakatives Alibi-Entrée: Hört her, hier handelt es sich zweifelsfrei um ambitionierte Avantgarde. Dergestalt legitimiert, bedient sich das Werk umso ungehemmter bei Bernstein, streift in einem A-Cappella-Satz die Renaissance oder ruht sich bei Rachmaninow aus.

Wie gesagt: Musikalische Räder dürfen sich ruhig mal rückwärts drehen. Ärgerlich ist Auerbachs eklektizistische Kompositionstechnik allerdings durch deren Begründung: Unsere Zeit sei „die Summe aller vorherigen Epochen“, erklärt sie in Interviews und sieht die polystilistische Reflexion des Gewesenen deswegen als „einzigen Weg“, der KomponistInnen heute offenstehe.

Nun kann man streiten, ob sich Auerbach damit demutsvoll in eine Situation hinein definiert, deren Saturiertheit der eigenen Kreativität eben Grenzen setzt. Oder ob man es im Gegenteil mit einem extrem egozentrischen Weltbild zu tun hat: Auerbach katapultiert sich in den Kulminationspunkt der gesamten Musikgeschichte – das edukative Erbe der Sowjetunion ließe grüßen. So oder so negiert Auerbach die Möglichkeit echter Innovation. Dem „Russian Requiem“ ist diese Selbstbeschränkung anzuhören. HENNING BLEYL

Ein Konzert-Mitschnitt ist am 5. Januar im Nordwest-Radio (UKW 88,3/ 95,4 Mhz) zu hören