: Es herrscht Textsicherheit auf den Rängen
Der Herbst kommt schneller, als du denkst, und Superpower kriegst du nicht geschenkt. Wir sind Helden beendeten am Samstag in der Wuhlheide die Zeit der Sommerfestivals und läuteten gleichzeitig ihre „Soundso“-Tour ein
Die Berliner brauchen dringend neue Jacken. Das wird in der Wuhlheide als Erstes klar. Die farblich fragwürdigen Skijacken und ausgebeulten Daunenwesten deuten darauf hin, dass noch keiner der Konzertbesucher auf den Herbst eingestellt ist. Überhaupt, das Publikum: Nicht sehr stylish. Eher wie der normale Günther-Jauch-Gucker, der ja jetzt auch eine dezent randlose Brille trägt. Die hip-alternativen Mitzwanziger – zu Zeiten des ersten Albums das Hauptpublikum von Wir sind Helden – sind verschwunden.
Dass das Durchschnittsalter des Publikums trotzdem gleich geblieben ist, liegt daran, dass sowohl sehr junge Fans (Grundschülerinnen mit vereinzelten Vätern im Schlepptau) und Fans gegen Ende 40 (beste Freundinnen auf dem Mädelsabend) gekommen sind. Dann sind da noch Typen, die „Ausziehen!“ grölen, wenn Frontfrau Judith Holofernes nach den ersten Songs sagt, ihr sei ganz schön heiß geworden. Ja, auch im September kann Oktoberfeststimmung aufkommen. Geschmust wird aber auch ganz viel: Da die Ränge nur zu drei Vierteln belegt sind, fallen die zahlreichen Pärchen besonders auf. Und sie alle können die Songtexte auswendig, singen sie sich direkt ins Gesicht, liefern sich regelrechte Contests in Textsicherheit – was bei den Holofernes’schen Wortspielen nicht schwer ist. Denn auch die Lieder des neuen Albums „Soundso“ sind eingängig wie gewohnt. Wenn das Album auch direkter, aggressiver als seine Vorgängerplatten daherkommt. Als ob die vier zeigen wollten, dass sie nach Geburt des ersten bandinternen Kindes (Holofernes und Schlagzeuger Pola Roy wurden Ende letzten Jahres Eltern) keineswegs nur schlafliedtauglich sind.
Live sind sie dann aber doch eher zahm, obwohl Holofernes das Konzert mit vielen Ausrufezeichen, „An die Arbeit!“ und „Panik!“-Rufen beginnt. Die heldenhafte Nettigkeit ist geblieben: Bassist Mark Tavassol grüßt sein „liebstes Berlin“, ein Lied wird den Wurstverkäufern, eines den Vorbands gewidmet. Neben einer gelungenen Auswahl an neuen Songs spielt die Band all das, was man sich als Fan der ersten Stunde nur so wünschen kann. Gleich an zweiter Stelle gibt es „Guten Tag“ auf die Ohren, den Song, mit der die damals noch plattenvertraglose Band vor fünf Jahren guerillaartig in die deutschen Singlecharts einstieg. Mittlerweile ist alles professioneller: Der Sound ist wuhlheidewürdig abgemischt und kann voller nicht sein. Drei Bläser (die den typischen Synchron-nach-links-synchron-nach-rechts-Tanz aller Blasmusiker draufhaben) sind mit auf der Bühne und drehen die Songs kraftvoll und verspielt ein bisschen weiter. Das macht Spaß. Auch eine richtige kleine Lightshow gibt es: In einer Art digitalen Lavalampen steigen farbige Lichter auf, die die Bühne zu dem traurig-schönen „Bleigrau“ in ein Aquarium verwandeln.
Nur das Publikum ist nicht so profimäßig drauf und zögert beim Tanzen. Da hilft auch die „Lockert eure Fußgelenke“-Aufforderung erst mal nichts. Das mag daran liegen, dass es sich dick eingemummelt schwer bewegen lässt. Man muss sich erst mal warmhören, und bei „Von hier an blind“ – der Song, der für das zweite Album titelgebend war – hüpft endlich die ganze Arena im Takt. Auch auf den Rängen wird zumindest mit dem Kopf genickt. Die vielleicht größte Überraschung: Manche der neuen Songs, die zu Hause auf dem Sofa gewöhnungsbedürftig sind – etwa „Die Konkurrenz“ –, erweisen sich als echte Live-Hits.
Aber der Gesamteindruck ist doch eher brav. Sind die „Helden“ erwachsen geworden? Nicht so richtig: Wenn Holofernes sich im türkisfarbenen Kleidchen mit rudernden Armen im Kreis dreht, wirkt die 30-Jährige beinahe noch mädchenhafter als früher. Dabei posiert sie auf der Eintrittskarte so wunderbar charmant mit Cape als Superheldin. Eine Prise Superpower mehr wäre für das Konzert nicht schlecht gewesen. So war es einfach ein runder, entspannter Abend. Die Fans dürften noch genug Energie übrig haben, um sich ein anständiges Outfit für die kalten Monate zuzulegen. LENA HACH