: Die lange Jagd nach dem Kitaplatz
Die Stadt Stuttgart wirbt gerne mit ihrer Kinderfreundlichkeit. Wer aber einen Krippen- oder Kitaplatz braucht, kann lange suchen. Weil die Plätze nicht zentral vergeben werden, stellen sich die Mütter in bis zu 20 verschiedenen Kitas vor. Und die haben lange Wartelisten. Es fehlt einfach an Plätzen. Auch an den Bauplätzen
von Anna Hunger
Tanja (Name geändert), 30 Jahre alt, Psychotherapeutin, steuert ihren Ford Transit durch den Stuttgarter Nachmittagsverkehr in Richtung Spielplatz Sillenbuch. Das sei einer der wenigen Plätze in Stuttgart, wo Mütter Kaffee trinken und wo ihre Kinder spielen könnten. Tanja lacht bitter. Von wegen kinderfreundliche Stadt. Hinten im Wagen sitzt Hannes, ein Jahr alt, strahlend blaue Augen, blonde Locken, gewinnendes Milchzahnlächeln.
Letztens hat Tanja einen Artikel mit dem Titel „Welche Kita passt zu meinem Kind?“ gelesen. „Blanker Hohn“, sagt sie. Als könne man da groß wählerisch sein in einer Zeit, in der man froh sein muss, sein Kind überhaupt irgendwo unterzubringen. „Mangel“ – das sei das Schlagwort: Bundesweit fehlen Krippenplätze – fast 300.000 in Deutschland, es fehlen Kindergartenplätze, es fehlen Hortplätze, verbindliche, regelmäßige Nachmittagsbetreuung an Grundschulen sowieso, es fehlen Tagesmütter, Erzieherinnen und Platz, um diese Misere zu lösen.
Für Frauen, die gerne arbeiten würden, aber nicht darauf angewiesen sind, ist all das ärgerlich, aber kein existenzielles Problem. Viel schwerwiegender ist der Mangel an Plätzen für Alleinerziehende, für Migrantinnen, deren Aufenthaltserlaubnis am Arbeitsplatz hängt, oder für Familien, die auf ein Zweitgehalt angewiesen sind. So wie die von Tanja eben.
Ein Spießrutenlauf von Kita zu Kita
Anfang September vergangenen Jahres ist Tanjas Sohn Hannes geboren. Sie hatte geplant, ein Jahr später wieder zu arbeiten. Zwei Wochen nach der Geburt fing für Tanja der Spießrutenlauf an. Sie hatte gewusst, dass es mit einem Kitaplatz schwierig würde, aber so schwer hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Der erste Besuch in der Kindertagesstätte war ernüchternd. Dort sagte man ihr, sie habe „keine Chance“, und setzte sie auf Platz 247 der Warteliste – geschätzt, denn so genau erinnert sich die junge Mutter nach 22 Anmeldungen und genauso vielen Wartelistenplätzen nicht mehr. Hannes hinten macht ein Geräusch, das sich wie „Kwieks“ anhört. „Kleiner Spinner“, sagt Tanja lächelnd. Weil es auch bei Kita zwei und drei so war, bekam die junge Mutter Panik und meldete sich bei weiteren 19 Kitas an. Manchmal per Online-Formular, manchmal persönlich, manchmal übers Telefon.
Es ist gängige Praxis, dass sich Mütter bei 20, 30 oder sogar mehr Kindertagesstätten vorstellen, aus Angst, am Ende leer auszugehen. Das Problem dabei ist aber: die Wartelisten der Betreuungseinrichtungen wachsen so auf über dreihundert Plätze an. Und weil die meisten Mütter irgendwann keinen Überblick mehr haben, melden sie sich auch nicht mehr ab, wenn sie einen Platz gefunden haben. Was wiederum zur Folge hat, dass das ohnehin überlastete Kitapersonal all die nicht ausgetragenen Eltern abtelefonieren muss. Man sollte eine zentrale Vergabestelle für freie Plätze einrichten, sagt Tanja, dann spare man sich diesen ganzen Heckmeck.
Die gibt es sogar: das Jugendamt. Aber das bekommt – wenn überhaupt – um die zehn freie Plätze in Monat gemeldet, aber auch nur für über Dreijährige und in Kernzeitbetreuung. Manchmal sind es sogar 15. „Dann ist es aber ein wirklich guter Monat“, sagt Heinrich Korn, der stellvertretende Leiter des Jugendamts Stuttgart. Plätze für unter Dreijährige würden so gut wie nie gemeldet.
Ernsthaft gewünscht ist eine solche Zentralstelle aber eigentlich weder von der Mehrzahl der Eltern noch von den Kindertagesstätten selbst. Beide Seiten wollen sich die jeweils andere aussuchen – weil die Eltern selbst entscheiden wollen, in welchem Angebot ihre Kleinen betreut werden, und weil die Erzieherinnen versuchen, die Gruppen ausgewogen zusammenzusetzen. Eigentlich.
20 Minuten später. Spielplatz Sillenbuch, viele Mütter, ein bisschen Regen. Hannes quietscht voller Vorfreude, als seine Mutter ihm die „Matschhose“ anzieht. Sie ist blau und sieht so stabil und wasserabweisend aus, dass Hannes damit vermutlich einmal quer durch den Amazons waten könnte.
Manche Kitas, sagt Tanja, haben eine Vorauswahl. Man meldet sich an und wird zum Tag der offenen Tür eingeladen. Oder zum Kennenlern-Nachmittag, an dem sich durchschnittlich 20 weitere Mütter fünf Stunden lang noch einmal live das anhören, was oft auch auf der Kita-Homepage steht. 21 Mütter also, mit Kind, Kinderwagen, prallen Taschen voller Lätzchen, Pampers, Kinderbrei, Wechselklamotten, Fläschchen, Schnuller, Wickelunterlage, Keksen, Babycreme für den Po und – vor allem – mit Besserem zu tun, als ein Jahr lang von Vorstell-Nachmittag zu Kennenlern-Treffen zu traben.
„Das hat mich maßlos aufgeregt“, sagt Tanja. Aber klar, man geht trotzdem hin, immer in der Hoffnung, etwas anderes zu hören als von einem Warteplatz im dreistelligen Bereich. Dabei ginge es meistens nicht mal um ein Kennenlernen, sagt Tanja, „als könne sich eine Kitaleiterin die Geschichten von 19 Müttern merken“. Vielmehr sei das eine bewusst aufgebaute Hürde, sagt sie. Wer sie nimmt, zeigt Einsatz. Die Kitas sehen das anders: Das Kind muss zur Gruppe passen, die Eltern zur Einrichtung, sie müssen manchmal mit regelmäßigen Elternabenden einverstanden sein, manchmal mit zeitraubendem Engagement wie Kochgruppen, Spielgruppen, Aufräum- und Putzdiensten. Das alles will besprochen sein. Auch wenn das Zeit kostet.
Als Tanja im März noch keine Zusage und auch kaum verbindliche Absagen erhalten hatte, entschied sie sich für eine Tagesmutter. Natürlich möchte man sein Kind nicht jeder x-beliebigen Frau anvertrauen, sagt Tanja, man wisse ja nicht, wie die mit dem Kind hinter verschlossener Tür umgeht, die meisten gut, klar, aber man steckt ja nicht drin. Deshalb kam es ihr gerade recht, dass eine ihrer Freundinnen einen Kurs zur Tagesmutter absolvieren wollte. Dann wurde die Freundin schwanger, und Tanja war wieder betreuungslos. „Das war der Punkt, an dem ich beinahe verzweifelt bin“, sagt Tanja. „Man fühlt sich so ausgeliefert.“ Und mit diesem Gefühl ist Tanja nicht die einzige Mutter in Stuttgart.
Zu wenig Gehalt, der Beruf anstrengend und unattraktiv
Rund 35 Prozent aller Kinder, die in Stuttgart betreut werden müssen, sind irgendwie untergebracht, sagt Heinrich Korn vom Jugendamt. Da habe man sich in den vergangenen zehn Jahren von 13 Prozent schon ganz schön hochgearbeitet. Der tatsächliche Bedarf liege aber um die 50 Prozent, sagt er. Das Problem sei nicht mal das Geld. Vielmehr mangle es an Bauplatz, vor allem in der Innenstadt, denn dort gebe es kaum Grundstücke mit Garten, die infrage kämen. „Wir können ja nicht in jedes freie Loch Kinder reinstecken“, sagt Korn.
Und wenn dann doch ein Platz gefunden würde, gebe es kaum Erzieherinnen, die auf die Kinder aufpassen. „Die rennen uns nicht gerade die Bude ein.“ Zu wenig Gehalt, der Beruf sehr anstrengend und einfach nicht attraktiv genug. Die ganze Misere sei bedauerlich, sagt Korn, sehr schwierig für einzelne Familien. Kritik würde er aber nur dann gelten lassen, wenn man nicht dauernd versuche, dem Trend entgegenzusteuern, sagt er. „Es gibt keine Idee, die wir nicht schon gehabt haben.“
Dabei ist die Betreuungssituation in Stuttgart eigentlich noch ganz passabel, findet Martina Dietschmann, die Regionalstellenleiterin des Verbands berufstätiger Mütter Baden-Württemberg. Die Klagen über die fehlenden Plätze in der Landeshauptstadt seien in den vergangenen Jahren merklich zurückgegangen, auch in den Kleinstädten rund um Stuttgart fruchten die Bemühungen von Städten und Ländern mittlerweile. „Aber auf dem Land sieht es böse aus“, sagt sie. Obwohl es schöne Einrichtungen gebe. Die seien aber nachmittags oft verwaist. „Warum eigentlich“, fragt sie.
Das nächste Problem: die Nachmittagsbetreuung an den Schulen und die Gebundenheit an den Schuleinzugsbereich. Falls eine Schule im weiteren Umkreis dann doch ein gutes Betreuungsangebot habe, müsse erst ein Antrag auf Umschulung gestellt werden. „Und bis der genehmigt ist“, sagt Dietschmann, „das dauert.“
„Umdenken“, sagt sie bestimmt. Ganz wichtig für die finanzielle Selbstständigkeit der Frauen im Land. In Stuttgart wird schon gedacht: Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann möchte bis zum Jahr 2018 alle Stuttgarter Grundschulen, die das möchten, in Ganztagsschulen mit verbindlichem und vor allem einheitlichem Konzept für die Nachmittagsbetreuung umgewandelt haben. Schluss mit dem Betreuungs-Flickenteppich.
Im Kampf um den Kitaplatz ist sich jede selbst die Nächste
Hannes hat auf dem Spielplatz, gleich neben dem Sandkasten mit der Rutsche, Chiara getroffen. Das kleine Mädchen, feine, dunkle Haare, olivgrüne Matschhose, schichtet Sand in ein blaues Förmchen. Sandkuchen. Hannes probiert ein paar Krümel und verschmiert die klebrig-nasse Pampe voller Inbrunst über die kleine Nase und das winzige Kinn. Dann lacht er sein fröhliches Milchzahnlachen.
Nachdem die Tagesmutter von Tanja nun nicht mehr zur Debatte stand, blieben der Mutter zwei Möglichkeiten: aufgeben oder kämpfen.
Tanja beschloss also, in den Kampf zu ziehen. Sie machte ein anrührendes Foto von ihrem Sohn, begann Muffins zu backen und bei der Muffin-Übergabe in der Kita so lange von der jeweiligen Einrichtung zu schwärmen, bis auch die härteste Kitaleiterin weich wurde. Ein paar Tage später hatte sie einen Platz und mit ein paar warmen Worten und Schokoküchlein in nur einer Stunde geschätzte 256 andere Frauen auf der Warteliste überholt.
„Eigentlich gemein“, sagt Tanja. Aber im Kampf um einen Betreuungsplatz fürs eigene Kind ist sich eben jede Mutter selbst die Nächste.