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Archiv-Artikel

Besuch in der eigenen Stadt

FLANIEREN Die Hauptstadt wird jetzt also doch nicht rot-grün regiert. Auch sonst kann einem Berlin seltsam vorkommen – immer noch, immer wieder. Ein Spaziergang am Rosenthaler Platz, wo nur die Veränderung bleibt

Farben von Berlin

■ Der Autor: David Wagner, geboren 1971, lebt als Schriftsteller in Berlin – wie es im Text steht: 500 Meter vom Rosenthaler Platz. Zuletzt erschien von ihm der viel beachtete Roman „Vier Äpfel“ (Rowohlt-Verlag). Weitere Leseempfehlungen: der Band „Spricht das Kind“ (Droschl-Verlag), das sprachsensibelste unter den neuen Vater-Kind-Büchern; und das Debüt „Meine nachtblaue Hose“ (Rowohlt-Taschenbuch).

■ Das neue Buch: Wir entnehmen diesen bislang unveröffentlichten Text aus David Wagners Band „Welche Farbe hat Berlin?“, der in den nächsten Tagen im Verbrecher-Verlag erscheinen wird.

VON DAVID WAGNER

Das Rosenthaler Tor wurde 1867 abgerissen, so entstand der Rosenthaler Platz. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war der Bau eines der wenigen Tore in der Stadtmauer gewesen, durch das Juden Berlin betreten durften. Für diejenigen, die nicht eingelassen wurden, gab es Herbergen vor dem Tor. Die müssen ungefähr da gestanden haben, wo sich jetzt das neue Hotel mit der Back-Factory befindet, in der ich gerade sitze.

Aus dem leicht unter Straßenniveau abgesenkten Café schaue ich auf den Platz und komme mir vor wie in einem Bassin ohne Wasser, der Bürgersteig und der U-Bahn-Eingang vor dem Fenster liegen auf Knie- bis Hüfthöhe. Schuh- und Fußfetischisten müsste diese Perspektive auf das Pflaster des Weinbergsweg gefallen: Stiefel, Sandalen, Turnschuhe und schöne Beine in Strumpfhosen wandern vorbei.

Ich trinke nicht so tollen Kaffee und beiße in ein Croissant, das nicht nach Paris, sondern billig schmeckt. Es hat bloß neunundsiebzig Cent gekostet, mit einer Gebäckzange habe ich es selbst aus einem Fach genommen, in eine Tüte gelegt und mich an der Kasse angestellt. Die Back-Factory ist ein Backdiscounter, es gibt keine Bäckereifachverkäuferinnen mehr. Hier bedient sich jeder selbst.

Quer über den Platz, der eigentlich eine große Kreuzung ist, liegt das St. Oberholz, das Café, in dem so viele „Laptop-Poser sich täglich neu vernetzen“, wie Christiane Rösinger singt. Vor ein paar Jahren saß ich selbst manchmal dort, ohne Computer kam ich mir allerdings nackt vor. Und ich weiß nicht, ob ich die Schauspielkunst, so wichtig und ernst und beschäftigt auszusehen, wie das Oberholz-Theater es erfordert, überhaupt noch beherrsche.

In dem Oberholz-Eckhaus war mal ein Burger King, schon damals gefiel mir die geschwungene Holztreppe, die in den ersten Stock hinaufführt. Dann gab es am selben Ort eine orientalisch inspirierte Cocktailbar mit flackernden Flammenlampen. In der Küche des geschlossenen Burger King lockte ein oder zwei Sommer lang die Kachelbar, heute ist dort ein Kleiderladen, kaputte Kacheln wurden ergänzt. Noch früher, das muss um 1997 gewesen sein, wurde unten im Sexyland in der heute vermauerten Toilettenanlage unter der Trambahnhaltestelle gefeiert.

„Der Rosenthaler Platz unterhält sich“, heißt es in „Berlin Alexanderplatz“. „Aschinger gibt den Leuten zu essen und Bier zu trinken“, schreibt Alfred Döblin, seinen Franz Biberkopf lässt er ganz am Anfang des Romans am Rosenthaler aus der 41 steigen – einer Straßenbahnlinie, die es nicht mehr gibt, und auch „Elektrische“ sagt heute niemand mehr zur Tram, die seit ein paar Jahren als M1 oder M8 hier hält.

Die Stehbierhalle Aschinger, an der Biberkopf auf seinem Weg in die Sophienstraße vorbeiläuft, befand sich nirgendwo anders als in dem Eckhaus, in dem heute das Oberholz geöffnet hat. Es gab einige Aschinger-Filialen in der Stadt, sie wurden, so die Überlieferung, auch Schrippenpaläste genannt, weil Biberkopf und wer da sonst noch trank zu seinem Erbseneintopf unter Kronleuchtern so viele Schrippen essen durfte, wie er wollte.

Eine Bekannte spaziert auf der anderen Seite des Weinbergsweg. Sie hat zwei große braune Versandtaschen in der Hand, wahrscheinlich ist sie auf dem Weg zur Post in der Torstraße. Sie sieht mich nicht, sie schaut nicht einmal in meine Richtung. Und ich frage mich, wie oft gehe ich irgendwo vorbei und werde gesehen, ohne dass ich selbst etwas bemerke? Die Bekannte biegt um die Ecke, vorbei an der Germania-Apotheke, die seit über hundert Jahren hier geöffnet hat. Neuerdings heißt die Apotheke allerdings gar nicht mehr wie die Welthauptstadt, sondern „Sanimedus“. Ob das der bessere Name ist?

Kommt mir vor, als erinnerte sich der Platz daran, dass hier einmal ein Stadttor stand

Wo die Buchhandlung Starick (vormals Heinrich-Heine) war, ist nun eine Touristenbar – nennt die sich „Haus am See“ nach dem Lied von Peter Fox? Es gibt einen schönen Dokumentarfilm von einer Schwedin namens Maria Mogren über die Veränderung der Brunnenstraße. Die DVD lässt sich in der Philip-Schaeffer-Bibliothek ausleihen, die liegt nur ein paar Häuser weiter, im dritten Hof.

Ich sitze hier und schaue, und auf einmal steht das Rosenthaler Tor wieder da, mitten im Verkehr. Es hat je zwei Säulen an jedem Durchgang, mit Dachfigurenschmuck, klassizistisch und klobig zugleich, so kenne ich es von einer frühen Fotografie. Auf meinem Telefon sehe ich, dass Google Street View ein wenig Vergangenheit aufbewahrt hat: Da, wo ich nun in der Back-Factory sitze, zeigt es statt des neuen Eckrundbaus noch eine große Lücke mit Bauzaun, und die Fassade des Hostels gegenüber ist noch nicht so blöd bemalt. Das Rosenthaler Tor ist auf Street View allerdings nicht zu sehen.

Komme ich nachts auf dem Weg nach Hause über den Platz, möchte ich mir hier oft ein Hotelzimmer nehmen. Nicht aus Erschöpfung oder weil ich Angst hätte, die vier- oder fünfhundert Meter den Berg hinauf nicht mehr zu schaffen. Es muss eher etwas mit dem Wunsch zu tun haben, in der eigenen Stadt auf Besuch zu sein. Ich möchte noch einmal hierher verreisen.

Meist schlafe ich dann aber doch nicht in einem der mit Neustuck oder einfallslosen Fensterraster verunzierten Übernachtungsbetriebe, die gleich drei der fünf Ecken des Platzes besetzen. Sondern kehre bloß in der Stehpizzeria Ecke Torstraße ein. Bis vor ein paar Jahren befand sich dort der „Szene-Imbiss“ genannte Dönerladen International, den die Band Britta in dem Lied „Die traurigsten Menschen (Von ganz Berlin)“ besungenen hat. Dort traf man sich nach Nächten in der Montagsbar. Und nach denen in der Dienstagsbar.

Mit dem Namen International war dieser Imbiss nur ein paar Jahre zu früh. Damals war die Internationalität ein Wunsch, heute trifft sich in der Stehpizzeria La Pausa die halbe Welt: Die Easy-Jetsetter, die Billigflugnomaden, die vielen Dänen, Amerikaner, Spanier und Franzosen – sie sind alle da. Um den Rosenthaler Platz herum ist es nachts oft absurd international.

Kommt mir vor, als erinnerte sich der Platz daran, dass hier einmal ein Stadttor stand, durch das es hinaus- und hineinging. Und dass nicht immer alle hineindurften in die alte Residenzstadt Berlin.

„Der Rosenthaler Platz unterhält sich“, heißt es in Döblins „Berlin Alexanderplatz“

Ein großes Tor mit vier Eingängen hat der Rosenthaler Platz behalten: Alfred Grenanders eigentlich neusachlich gemeinter orange-perlmutt gekachelter Prachtbahnhof liegt gleich unter dem Pflaster. Zu Mauerzeiten ein Geisterbahnhof, in dem kein Zug mehr hielt, hat der Rosenthaler noch heute die schönste Kennfarbe aller U-Bahnhöfe Berlins. Kein Zufall, dass auch Karl Lagerfeld sich schon dort unten fotografieren ließ. Zwei sehr schöne Frauenbeine in schwarzen Strumpfhosen sehe ich nun hinabsteigen in die Unterwelt, Persephone, wo fährst du hin? Willst du nach Kreuzberg? Zum Kottbusser Tor? Brunchen im Südblock?

Das letzte Stück des Croissants verschwindet in meinem Mund, und ich wundere mich plötzlich über den Namen Back-Factory. Was soll das eigentlich heißen? Bin ich Backwarenfabrikarbeiter, weil ich Gebäck in mich hineinarbeite? Muss dieser Name anglophone Muttersprachler nicht verwirren? Eine Engländerin fragte neulich, ob man sich in einer Back-Factory um schmerzende Rücken kümmere.

Will eine Back-Factory etwas wie ein Back-Office sein? Oder ist der Name am Ende als Aufforderung zu verstehen, soll ich zurück in die Fabrik? Und müsste ich da am Ende arbeiten? In der Alten Seifenfabrik, die schräg gegenüber an der Torstraße steht, wird jedenfalls nichts mehr hergestellt.

Einmal, das war an einem Sonntag im letzten Frühling, hat jemand mehrere Eimer Farbe auf den Rosenthaler Platz gegossen. Ganz großes Action-Painting. Autos und Fahrräder, die durch den Farbsee fuhren, malten Rot, Gelb und Blau auf die Kreuzung, fast ein Barnett Newman, aber Violett war auch mit dabei. Der Platz war plötzlich ziemlich bunt. Dann hat der Regen die Farben wieder abgewaschen.