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Archiv-Artikel

Plädoyer für mehr Ungeduld

DEFIZITE Wachsende Wirtschaft, stagnierender Wohlfahrtsstaat: Jean Drèzes und Amartya Sens Untersuchung „Indien. Ein Land und seine Widersprüche“

„Arme Menschen sich selbst zu überlassen ist weder sozial gerechte noch kluge Politik“

JEAN DRÈZE UND AMARTYA SEN

Wie steht es um die Bildung? Was bietet das Gesundheitssystem? Antworten, die der belgische Entwicklungsökonom Jean Drèze und der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen auf diese und viele weitere Fragen finden, sind zumeist niederschmetternd. Das wird besonders deutlich, wenn sie Indien mit anderen Staaten Südasiens vergleichen. Indien ist in der Region blamablerweise nicht nur Schlusslicht, was die Impfrate bei Kindern angeht, sondern auch in puncto Unterernährung. Auch hinsichtlich der Lebenserwartung belegt das Land einen der unteren Ränge.

Ein ähnliches Bild ergibt sich im Vergleich mit China, Brasilien und Russland. Dass das Wirtschaftswachstum, das Indien vorzuweisen hat, nicht mit einer steigenden Lebensqualität aller einhergeht, hat sich längst herumgesprochen: „Arme Menschen sich selbst zu überlassen ist weder sozial gerechte noch kluge Politik.“ Das gilt für Indien aber besonders.

Im Kern benennt das Buch die konsequente Benachteiligung der Armen – etwa ein Drittel der Bevölkerung, also circa 400 Millionen Einwohner. Ihre Missachtung schade nicht nur ihnen, sondern der Demokratie im Ganzen, wobei das Land Erfolge wie Misserfolge in der Armutsbekämpfung vorzuweisen hat. Eine chaotische Verwaltung und oftmals fehlende Zuständigkeiten gehören aber nach wie vor zu den Schwachstellen. Obendrein gibt es eine starke Lobby der Wohlhabenden, die Reformen zu ihren Ungunsten zu verhindern weiß.

Trennscharf zeigen Drèze und Sen, wie auch die allgegenwärtige Korruption Indien in seiner Entwicklung lähmt und die Demokratie schwächt. Hinzu kommen verheerende Defizite im Bildungssystem sowie gravierende klassen-, kasten- und geschlechtsbedingte Ungleichbehandlungen. Angesichts all dieser Mängel plädieren die Autoren für mehr Ungeduld. Dabei nehmen sie die ganze Welt ins Visier. Ihr Buch wirft einen realistischen Blick auf die indischen Verhältnisse, die eben nicht von Wirtschaftswundermeldungen bestimmt werden. Lösungen finden sie aber längst nicht nur außerhalb Indiens, sondern auch in den Bundesstaaten Kerala, Tamil Nadu und Himachal Pradesh, die höhere Bildungsstandards und eine bessere Gesundheitsversorgung als der Rest des Landes aufweisen.

Das ist, so wird deutlich, einer dezidiert die Ungleichheiten und Defizite in den Blick nehmenden Politik geschuldet. Keinesfalls schmälern die Autoren indische Errungenschaften, loben vielmehr das erste nichtwestliche Land, das sich vorbehaltlos einer demokratischen Regierungsform verschrieben habe, etwa mit Wahlen, dem Schutz von Minderheitenrechten sowie der Rede- und Meinungsfreiheit.

Gerade in Anbetracht dieser herausragenden Leistung scheint die Tatsache nicht mehr hinzunehmen, dass ein riesiger Teil der indischen Bevölkerung auf brauchbare Schulen, Krankenhäuser, Toiletten und zwei ordentliche Mahlzeiten am Tag verzichten muss. Die Verhältnisse sind skandalös. Das Buch macht dies mit reichlich Zahlenwerk und plausiblen Schlussfolgerungen deutlich, ohne zu verschweigen, dass Wandel durch konstruktives Handeln möglich ist. SHIRIN SOJITRAWALLA

■ Jean Drèze und Amartya Sen: „Indien. Ein Land und seine Widersprüche“. Aus dem Englischen von T. Atzert und A. Wirthensohn. Verlag C. H. Beck, München 2014, 376 S., 29,95 Euro