: Migration der Seele
GESUNDHEIT Im Fokus der diesjährigen Woche der seelischen Gesundheit stehen Migranten. In vielen Communities ist das Thema ein großes Tabu, und es fehlen Ansprechpartner
■ Die Woche der seelischen Gesundheit wird derzeit von allen Berliner Gesundheitsämtern organisiert. Bis 19. Oktober finden Workshops statt und Fachtagungen für Spezialisten, aber auch Infoveranstaltungen für Angehörige psychisch Erkrankter oder für Männer, die als Jungen Opfer sexueller Gewalt wurden. An eine breite Öffentlichkeit richten sich Kunstausstellungen, Gottesdienste und Konzerte. Ein detailliertes Programm steht unter http:// aktionswoche.seelischegesundheit.net/berlin/veranstaltungskalender.
VON MARINA MAI
Knapp 10 Prozent der Krankschreibungen in Berlin gehen nach Angaben der gesetzlichen Krankenkassen auf Erkrankungen der Psyche zurück. Und fast jeder dritte Mensch leidet laut Medizinern mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung. Dennoch wird über Depressionen oder Schizophrenie in der Öffentlichkeit nicht in annähernd gleicher Weise diskutiert wie beispielsweise über Bluthochdruck oder Krebs. „Von Prominenten abgesehen, sind psychische Erkrankungen tabu“, sagt Dagmar Pohle (Linke), Bürgermeisterin und gleichzeitig Gesundheitsstadträtin von Marzahn-Hellersdorf. Um ihnen Platz zur Diskussion zu geben, findet derzeit bereits zum vierten Mal die Woche der seelischen Gesundheit statt.
In diesem Jahr stehen dabei die Migranten im Blickpunkt. Denn in vielen Migrantencommunities, so die Erfahrung von Dagmar Pohle, ist das Thema sogar noch stärker tabuisiert als unter deutschstämmigen Berlinern. Sie seien noch seltener bereit, zum Arzt zu gehen, wenn sie den Überblick über ihr Leben verlieren. Das ist die Erfahrung mehrerer Gesundheitseinrichtungen in Marzahn-Hellersdorf.
Hinzu kommt: Die Psychotherapie hat erst begonnen, sich interkulturell zu öffnen. Schon für Türken und Russen ist es sehr schwierig, in Berlin einen Psychotherapeuten zu finden, mit dem sie über ihre inneren Probleme in ihrer Muttersprache sprechen können: Es gibt deutlich zu wenig Spezialisten mit solchen Sprachkenntnissen. Andere Gruppen, wie Chinesen und Albaner, finden gar keine Angebote in ihrer Muttersprache.
Das geringe Angebot hat viel damit zu tun, dass der Beruf eines Psychiaters unter Migranten verpönt ist. „Ich will Medizin studieren und am liebsten Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie werden“, sagt zum Beispiel die vietnamesische Abiturientin Kim D. der taz. Sie weiß, wovon sie spricht, denn ihr Schülerpraktikum hat sie auf einer psychiatrischen Station verbracht. Das Problem: Während ihre Eltern ihren Studienwunsch Medizin begrüßen und glücklich wären, wenn ihre Tochter einmal den weißen Kittel tragen würde, sind sie entschieden dagegen „dass ich mich mit ‚Verrückten‘ abgeben soll“, berichtet die Abiturientin. „So etwas ist in den Augen meiner Eltern nichts, was Ansehen oder Erfüllung bringt.“ Auch für eine erwachsene Vietnamesin ist es nicht selbstverständlich, sich den Wünschen der Eltern zu widersetzen: Die Berufswahl ist in Zuwandererfamilien stärker eine familiäre Entscheidung als eine Entscheidung des Einzelnen.
Die Medizin geht davon aus, dass 3 Prozent aller Menschen einmal im Leben eine schwerwiegende psychotische Episode durchmachen, in der ihnen der Alltag entgleitet. Solche schweren Erkrankungen wie etwa Schizophrenie haben in der Regel keine kulturellen Ursachen, das heißt, sie kommen in allen Kulturkreisen gleich häufig vor. Für Zuwanderer sind Hilfsangebote aber schwerer zu finden, weil es zu wenig muttersprachliche Aufklärung gibt.
In Marzahn-Hellersdorf arbeitet man gerade an einem Gesundheitsführer in polnischer Sprache. In den Bezirk seien viele Roma aus Polen eingewandert, die schwer Zugang zum Gesundheitssystem fänden und oft nicht krankenversichert seien, berichtet die Bürgermeisterin. Schwierig ist die Diagnose bei Migranten aber auch, weil Hausärzte wegen der Sprachhürden oft nicht verstehen, welche Erkrankung die Patienten haben.
Für leichtere psychische Erkrankungen gibt es auch kulturelle Ursachen. Elena Marburg, gebürtige Bulgarin und Migrationsbeauftragte aus Marzahn-Hellersdorf, weiß: „Migration kann krank machen. Sie muss es aber nicht. Ob man sich in Deutschland zu Hause fühlt, ob man sich willkommen fühlt, das hat Auswirkungen auf die seelische Gesundheit.“ Die Migrationsbeauftragte hat „kollektive seelische Verletzungen“ ausgemacht, etwa durch die Sarrazin-Debatte oder durch das in der Stadt zahlreich geklebte NPD-Wahlplakat „Guten Heimflug“.