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Archiv-Artikel

Mythos der Unversöhnlichkeit

Israel lebt bis heute am „siebten Tag des Sechstageskriegs“ schreibt der Historiker und Publizist Tom Segev in seinem überwältigenden Buch „1967“ über den Krieg und seine Folgen

VON ALEXANDRA SENFFT

Es gibt keinen Partner für den Frieden, sagte der israelische Ministerpräsident Ehud Barak im Jahr 2000, kurz nachdem die Verhandlungen in Camp David gescheitert waren. Die Behauptung, Palästinenserpräsident Arafat habe Israels großzügiges Angebot zur Lösung des Konflikts abgelehnt, machte die Runde. Zwar ist bekannt, dass alle Beteiligten für das Scheitern der Gespräche verantwortlich waren, der Mythos von der arabischen Unversöhnlichkeit ist trotzdem unerschütterlich.

Baraks Schachzug, so lernen wir aus Tom Segevs Buch, war wirkungsvoll, aber nicht originell: Schon nach dem Sechstagekrieg 1967 stellten israelische Politiker komplizierte Vorgänge einseitig als „Wahrheit“ dar: Man habe sich mit einem Präventivschlag gegen einen „Ring der Aggression“ verteidigen, ja einen neuen Holocaust verhindern müssen. Die Araber hätten den Tausch „Land gegen Frieden“ nicht akzeptiert, also habe man das Westjordanland und den Gazastreifen als Faustpfand für spätere Verhandlungen behalten.

In unserem Kulturkreis ist diese Version der Ereignisse vierzig Jahre die dominante Darstellung gewesen. Nun gibt es eine neue Sichtweise, basierend auf Material aus 25 Archiven, auf privaten Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern und Interviews mit Zeitzeugen. Segev, Autor der Standardwerke „Die siebte Million“ und „Es war einmal ein Palästina“, hat aus israelischer Perspektive fast 800 Seiten über und um den Sechstagekrieg herum geschrieben. Und das ist noch lange nicht die ganze Geschichte, denn viele Unterlagen sind weiterhin unter Verschluss.

Der Leser ist geneigt, vor so viel Stoff zu kapitulieren. Die Materie entwickelt jedoch eine Dramaturgie, die auch scheinbar unbedeutende Alltagsdetails politisch bedeutsam werden lässt: Segev beginnt mit der Atmosphäre in Israel vor dem Krieg, erzählt von den aufregenden Stunden vor und während der Schlacht und beschreibt die entscheidende Zeit, vor allem den rapiden Wertewandel, danach. Er lässt die Vergangenheit lebendig werden und erklärt aus ihr heraus vieles über die Gegenwart Israels.

Der „neue Historiker“ und Kolumnist der israelischen Tageszeitung Ha'aretz räumt mit einigen Fehlvorstellungen auf. Es handelte sich im Juni 1967 nicht um einen einzigen Krieg, sondern um drei separate Kriege – gegen Ägypten, Syrien und Jordanien. Kaum einer der Akteure hatte militärische Auseinandersetzungen gewünscht: Die Araber wussten, dass sie der israelischen Armee unterlegen waren, und selbst die israelischen Tauben waren auf einen Krieg nicht erpicht. Die Großmächte waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt – die Amerikaner vor allem mit Vietnam. Laut Segev erzeugten diverse Entwicklungen, persönliche Eitelkeiten, politische Erwägungen und emotionale Reaktionen eine Dynamik, die den meisten Israelis einen Krieg zuletzt zwangsläufig erscheinen ließ. Da war mehr gefühlte Wirklichkeit als Realität im Spiel, denn von außen bestand für den Staat der Juden keine Gefahr.

Die Gefahr lauerte vielmehr im Inneren. Die Spannungen in der Region trafen die Israelis in einer „allgemeinen Depression“: Ministerpräsident Levi Eschkol wirkte nach Ben Gurion eher schwach. Eine Rezession, die zunehmende Arbeitslosigkeit sowie die „Emigrationsplage“ schufen große Unsicherheit. Konflikte zwischen den europäischen Juden (Aschkenasim) und den Juden aus arabischen und islamischen Ländern (Misrachim) sowie Diskussionen über das Spannungsverhältnis von Judentum und israelischen Staatsbürgerschaft nahmen an Schärfe zu. Das Land steckte in einer tiefen Identitätskrise, die Bürger waren von nahezu unlösbaren Widersprüchen aufgerieben. Der israelische Traum schien am Ende, die nackte Angst ging um. Schon segneten Rabbiner potenzielle Massengräber: „Seit dem Holocaust hatten sich die Israelis nicht mehr so elend und isoliert gefühlt“, sagt Segev.

Die hysterische Stimmung, ein zaudernder Premier und die Zustimmung Amerikas boten den israelischen Falken schließlich die Gelegenheit, anzugreifen. Der palästinensische Terror lieferte den entscheidenden Rechtfertigungsgrund.

Die ägyptische, die syrische und die jordanische Luftwaffe wurden innerhalb von sechs Tagen zerstört, die feindlichen Soldaten waren leichte Beute. Die israelische Führung nutzte die Gunst der Stunde und besetzte mehr Land als ursprünglich geplant, der letzte Streich war die Altstadt Jerusalems. Die Gier hatte eingesetzt, sagt Segev, es hieß, man habe „den historischen Fehler“ von 1948 korrigiert.

Den eigentlichen Fehler begingen die Politiker seiner Meinung nach erst dann. Sie herrschten in den palästinensischen Gebieten „mit einer Mischung aus besatzerischer Begehrlichkeit und religiösem Eifer“. Aus Mangel an „Fantasie, an Mut und an Mitgefühl“, versäumten sie es, rechtzeitig über die besetzten Gebiete und vor allem über das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge zu entscheiden. „Welche Rolle Israel bei der Tragödie der Palästinenser spielte“, habe man nicht reflektiert. Siegestrunken ließ die Führung die Dinge schleifen, schaute weg oder förderte aggressive Strömungen wie die radikale jüdische Siedlerbewegung. Sie schuf einen Besatzungsapparat „mit grotesken Zügen“, von dem manche, wie Mosche Dajan, meinten, er dürfe ruhig recht lange Bestand haben. Friedliche Signale aus Ägypten oder Angebote aus Jordanien überhörte man geflissentlich.

All dies sei kurzsichtig und gegen die nationalen Interessen Israels gewesen, sagt Segev: „Wir leben noch immer am siebten Tag des Sechstageskrieges.“ Junge Israelis hätten allen Grund, seiner Generation vorzuwerfen, „Mist gebaut“ zu haben. Der Autor hat das Buch seinem Adoptivsohn Itai gewidmet – in der Hoffnung, dass er und seine Altersgenossen nicht weiter für die Fehler ihrer Altväter büßen und keinen Krieg erleben müssen. Vielleicht auch in der Hoffnung, dass sie aus der Geschichte lernen und die starren alten Mechanismen einmal durchbrechen werden.

Tom Segev: „1967. Israels zweite Geburt“. Siedler Verlag, München 2007, 797 Seiten, 28 Euro