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Archiv-Artikel

Die Tragik von Alessios Tod

FALLBEISPIEL Die Ärzte von Alessio ahnten früh, dass der Dreijährige misshandelt wird, und stellten Strafanzeige. Dennoch starb der Junge

Immer wieder wurde Alessio mit Verletzungen zum Kinderarzt gebracht – angeblich hatte er sich beim Spielen auf dem Hof wehgetan

FREIBURG taz | Jeden zweiten Tag stirbt in Deutschland ein Kind aufgrund von Misshandlung oder Vernachlässigung. Das besagt die Statistik des Bundeskriminalamts für das Jahr 2013. Ein besonders tragischer Fall hat jetzt in Lenzkirch im Schwarzwald zum Tod des dreijährigen Alessio geführt.

Der Junge wohnte mit seinem Stiefvater und seiner psychisch kranken Mutter auf einem Bauernhof. Immer wieder wurde Alessio mit Verletzungen zum Kinderarzt gebracht – angeblich hatte er sich beim Spielen auf dem Hof wehgetan.

Ende Juli 2014 landete Alessio schwer verletzt in der Freiburger Uniklinik. Das dortige Kinderschutzzentrum war sich ziemlich sicher, dass das Kind schwer misshandelt wurde. Die Ärzte empfahlen, das Kind nicht mehr in die Familie zurückzubringen, und stellten sogar eine Strafanzeige bei der Polizei. Das Kind fuhr gemeinsam mit der Mutter auf eine längere Kur. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen den Stiefvater jedoch im Oktober ein, weil die Mutter den Mann als fürsorglichen Vater bezeichnete und eine Täterschaft nicht nachweisbar war.

Nach der längeren Mutter-Kind-Kur akzeptierte das Jugendamt im Herbst eine Rückkehr des Kindes auf den elterlichen Bauernhof. Der Anwalt des Stiefvaters hatte Druck gemacht und das Jugendamt befürchtete eine Niederlage beim Familiengericht, wenn es das Kind von der Familie trenne. Für einen erneuten Versuch, das Kind bei den Eltern zu lassen, sprach auch, dass diese sich sehr kooperativ zeigten. In der Folge kamen täglich Helfer in die Familie.

Am 16. Januar – die Mutter war gerade einige Tage in einer Klinik – brachte der Stiefvater Alessio erneut zum Kinderarzt. Das Kind sei auf der Treppe gestürzt. Wenige Stunden später starb der dreijährige Alessio an schweren inneren Verletzungen. Die Rechtsmedizin erklärte, ein Treppensturz passe nicht zu den Verletzungen. Der Stiefvater sitzt seitdem in Untersuchungshaft – der Verdacht lautet auf Totschlag. Die Freiburger Uniklinik machte dem Jugendamt inzwischen schwere Vorwürfe.

Der Fall hat erneut Diskussionen ausgelöst, ob in Deutschland das Elternrecht zu stark und das Kindeswohl zu schwach gewichtet sind. SPD, Linke und Grüne fordern bereits, Kinderrechte explizit im Grundgesetz zu verankern. CHRISTIAN RATH