DER BRUNNEN : Marx und der Schnee
Der Nachwuchs hat den Schnee gegen 6.30 Uhr entdeckt und will sofort raus. Schneeballschlacht und Schneemann bauen. Wir gehen in den Park Friedrichshain. Am Rodelberg steht bereits ein Riesenschneemann. Also weiter zum Rondell. Der Schnee pappt wunderbar. Schnell haben wir ein paar Boller gerollt und aufgetürmt. Aber der Nachwuchs will mehr: ein Iglu.
Wir rollen noch größere Boller. Doch aus dem Schneehaus wird nichts, weswegen ich den Nachwuchs von den Vorzügen eines Schneebrunnens überzeuge. Das Teil ist fertig, da kommt ein Hund angerannt, ein ziemliches Vieh. Es nimmt den Brunnen in Beschlag, stellt sich drauf wie ein hündischer Feldherr. Der Nachwuchs ruft: „Der Hund soll weg!“ Der Hund bleibt. Der Nachwuchs wird lauter, er kreischt.
Die Hundebesitzerin macht in aller Ruhe Fotos von ihrem Tier. Sie trägt eine graue Camouflage-Jacke und ein Lippenpiercing. Nach kurzem Zögern mache ich mich auf den Weg zu ihr. Aber sie reagiert nicht auf mein “Hallo“. Sie schießt noch ein paar Fotos, während ihr Hund den Brunnen zu Matsch verarbeitet. Als würde sich in jedem einzelnen Klumpen ein Knochen verbergen, zerwühlt der Hund unsere Skulptur.
“Könnten sie ihren Hund nicht mal zurückpfeifen“, sage ich. „Nö, jetzt ist es eh schon zu spät“, sagt sie, „und außerdem: Der Schnee gehört allen.“ Ich rege mich noch ein bisschen auf und erkläre dem Nachwuchs, dass manche Leute eben „blöd“ seien, doch so blöd war der Hinweis auf die Besitzverhältnisse des Schnees dann doch nicht.
Wem gehört der Schnee? Und vor allem: Wem gehört der Schnee, der zu einer Skulptur verarbeitet wurde? Wie man es dreht und wendet, der Weg führt zu Marx. Haben wir uns die Natur, also den Schnee, nicht durch tätige Arbeit angeeignet, aus etwas Einfachem etwas Komplexes gemacht? Ja schon, aber das war Hund und Halterin so was von schnuppe. MARKUS VÖLKER