: Haarwechsel ist Identitätswechsel
THEATER Ein Beziehungsgeflecht mit kurdischen, jüdischen, russischen Einflüssen erzählt Marianna Salzmanns Stück „Wir Zöpfe“ am Gorki-Theater
Von wegen eitle Jugend. Die Älteren sind es, die hier auf Schönheitsideale pochen. Die Mutter wünscht der Tochter lange Haare und würde eine Nasenkorrektur bezahlen. Quatsch, sagt der russische Großvater der Enkelin: „Du bist eine Europäerin, kannst auch eine krumme Nase haben.“ Mit ihren kurzen Haaren assoziiert er, der noch in der Roten Armee gekämpft hat, vor allem „Soldat und Nazi“. Während die Mutter die Tochter für eine Lesbe hält. Zumindest bis herauskommt, dass beide mit demselben Mann geschlafen haben.
Es ist ein familiär-verworrenes Beziehungsgeflecht, in das die Dramatikern Marianna Salzmann die Figuren ihres neuen Stücks schickt. Imran gehört dazu, ein kurdischer Türke, zu dem die Mutter als Ärztin im Krankenhaus zarte Bande knüpft. Der Deutschamerikaner John, der in einer Modeboutique jobbt und Kundinnen spontan neue Haarschnitte verpasst. Mittendrin die junge Nadeshda, der all die Zuschreibungen um sie herum kaum gültig erscheinen. In dem Stück ist sie die zentrale Figur, das Herzzentrum. Alle glauben, mit der Frisur auch die Identität verändern zu können, doch Nadeshda bleiben mehr Fragen als Antworten: an ihre Zukunft, die Herkunft, die Rolle der Familie.
Um Heimat- und Identitätssuche geht es in dem Stück „Wir Zöpfe“, das von Salzmann auch ein wenig als Berliner Geschichte erzählt wird. John kam nach Mitte, um eine Szenebar aufzumachen, aber vielleicht auch nur, um seinen Vater in Amerika nicht im Knast besuchen zu müssen. Der Großvater hat einst als russischer Soldat die letzten Kriegstage in der Stadt miterlebt, in der er bald sterben wird. Lebenssehnsüchte, familiäre Muster und Nachkriegsgeschichte verflechten sich. Ist Identitätswechsel möglich? Zumindest besteht die Chance, das symbolisieren die Frisurwechsel, um die es immer wieder geht.
Fürs Programm des Maxim Gorki Theaters ist das Stück thematisch perfekt zugeschnitten. Babett Grubes Inszenierung läuft denn auch auf der großen Bühne, dem Aushängeschild auch am Gorki. Und die nehmen die Spieler ganz typisch in Beschlag. Anastaja Gubareva als Nadeshda hält am Mikrofon erst einmal eine kleine Showeinführung. Alle Protagonisten werden vorgestellt, sind einerseits Salzmann-Figuren, markieren andererseits, dass sie hier immer auch sie selber bleiben, selbst wenn sie hier in schräge Rollen schlüpfen. Tim Porath etwa als altersgeiler Großvater, der kurz vor dem Tod nochmal richtig leben möchte. Oder Dimitrij Schaad, der als Nadeshdas abgetriebenes Kind auftritt, das wie aus dem Jenseits freche Kommentare beisteuert.
Die zwangsfamiliären Beziehungen werden durchgespielt, bis alle am Ende beim Weihnachtsessen zusammensitzen. Mit ihren russischen, jüdischen, arabischen Wurzeln würden sie das Fest eigentlich gar nicht feiern. Salzmanns Stück ist auch ein Resonanzraum für ein Miteinander, dem weniger kulturelle Unterschiede als emotionale Verletzungen im Weg stehen. Diese versucht man zu verdrängen – alle Figuren tun so, als wollten sie immer nur Spaß. Was dann auch zum Problem des Abends wird. Regisseurin Grube und die Spieler packen das Stück als Komödie mit viel Blödelei und Randgruppenwitzen, die allerdings nicht so recht zünden wollen. Die misslungene Weihnachtsgans ist für ein paar Scherze gut. Wenn Geborgenheit gesucht wird, klettert man auf einem Fellberg – das Hinterteil eines riesigen liegenden Tiers, das sich Bühnenbildnerin Lea Dietrich ausgedacht hat und ein Fremdkörper der Inszenierung bleibt.
Sehenswert ist der Abend vor allem wegen der Gorki-Schauspieler, ihrer besonderen Art, zusammenzuspielen, Unterschiede gelten zu lassen und doch eine Gemeinschaft zu sein. Nestwarm fühlt sich das an. Die Schmerzens- und Herzenssehnsüchte des Texts bekommen sie diesmal allerdings nicht zu fassen.
SIMONE KAEMPF
■ „Wir Zöpfe“: Gorki Theater, wieder am 8. 2. , 18 Uhr, 5. 3., 19.30 Uhr, 19. 3., 19.30 Uhr