: Elektronisch erfasste Gesellschaft
Wir sind im Überwachungsstaat angekommen, meint Datenschützer Peter Schaar. Akribisch arbeitet er sich durch die Instrumente der elektronischen Kontrolle: vom Video über Maut und Biometrie bis zum RFID-Chip. Zur Gesundheitskarte sagt er leider nichts
VON ULRIKE WINKELMANN
Vor 24 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Volkszählungsurteil das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ definiert. Trotzdem sind seither die Möglichkeiten, Daten zu erheben, zu speichern, zu verwenden und weiterzugeben, schier explodiert. Doch das öffentliche Bewusstsein dafür, dass die Datensammelei problematisch sein könnte, ist nicht mitgewachsen.
So gesehen muss man Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) dankbar sein für seine zunehmend wahnhaften Ideen und Forderungen. Immerhin kam ihretwegen jüngst in Berlin eine Demo für Datenschutz mit weit über 10.000 Teilnehmern zustande. Doch ist damit die Relevanz einer unbeobachteten Festplatte ja noch nicht abgebildet.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar unternimmt jetzt einen Anlauf, den Bürgern zu erklären, was sie verlieren, wenn sie auf ihre Daten nicht aufpassen. „Über die ganze Gesellschaft legt sich nach und nach ein unsichtbares Überwachungsnetz“, schreibt er in seinem Buch „Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft“.
Längst lebten wir in einer „elektronischen Erfassungsgesellschaft“, weil Videokameras unsere Wege überwachen, unser Handy jederzeit meldet, wo wir sind, weil Bild- und persönliche Daten kurzgeschlossen werden können, und im Internet jeder unserer Kommunikations- und Informationsschritte gespeichert ist. Die möglichen Konsequenzen für den Einzelnen: „der wegen einer negativen Schufa-Auskunft verweigerte Kredit, das von Unbekannten elektronisch leer geräumte Konto oder auch nur die von digitalem Werbemüll vollgestopfte Mailbox“. Immerhin wirken die bösen Folgen der Datenerhebung durch die Wirtschaft noch überschaubar.
Anders ist es bei der ausufernden staatlichen Datenerhebung: „Jeder kann völlig zu Unrecht in Verdacht geraten, gegen Gesetze verstoßen zu haben.“ Gerade dem rechtschaffenen „Ich habe nichts zu verbergen“-Bürger müsste zumindest dies ein Graus sein: verdächtig zu werden, weil in den Datengebirgen des Staates das falsche Steinchen ins Rollen geraten ist. Doch haben selbst vom Verfassungsgericht als grundgesetzwidrig gerügte Maßnahmen wie die Rasterfahndung nach dem 11. September 2001 kaum nennenswerte Empörung hervorgerufen. Es steht zu vermuten, dass der allergrößte Teil der Bevölkerung meint, im Zweifel werde ein unschuldig Verdächtigter Mohammed heißen, niemals aber Daniel oder Fritz.
Punkt für Punkt arbeitet sich Schaar durch das Instrumentarium des Überwachungsalltags: vom Video über Maut und Biometrie bis zu den neuen, winzigen RFID-Chips, die überall eingepflanzt werden können und den Träger verraten, sobald er in die Nähe einer Lesestation gerät.
Bei einigen Techniken sieht Schaar noch Chancen, sie so umzugestalten, dass sie sensible Daten gar nicht erst erfassen. Denn: „Nicht vorhandene Daten wecken jedenfalls keine Begehrlichkeiten“, schreibt er und verweist auf das Beispiel der Lkw-Maut, die nun natürlich doch der Tätersuche dienen soll.
Andere Techniken muss er für den Datenschutz verloren geben. Das Fernmelde-, also Kommunikationsgeheimnis etwa hat sich weitgehend erledigt. Nicht nur der deutsche Staat hört längst mit – Schaar, der frühere Grünen-Politiker in Hamburg, schreibt gewohnt bundesamtlich-diplomatisch: „Anscheinend“ sind wir hier im Überwachungsstaat angekommen.
Bei seinem Gewaltritt über den Datenplaneten bleibt es nicht aus, ist aber bedauerlich, dass Schaar einigen Innovationen wenig Aufmerksamkeit schenkt. So kommt etwa die „elektronische Gesundheitskarte“ zu kurz, die derzeit noch in regionalen Probeläufen steckt. Von diesem größten IT-Projekt der Welt, in dem am Ende die Gesundheitsdaten von 82 Millionen Versicherten der Gesundheitsindustrie ausgeliefert werden sollen, ist immer noch recht wenig bekannt. Welche Daten genau werden gespeichert, von wem genau werden sie ausgelesen? Schaar müsste angesichts so wichtiger offener Fragen zumindest misstrauisch sein, ob hier seitens der Regierung Diskussionen nicht bewusst vermieden werden sollen.
Schaar gelingt es, sein Buch auch für elektronische Analphabeten lesbar zu halten, obwohl sich grundrechtlich drängende Fragen oft in technischen Details verbergen und die endlose Debatte über Sicherheit „gegen“ Freiheit stets in Abwägungen zur verwendeten Technik mündet. Und das ist wohl im Kern das Problem der Datenschutz-PR, um das auch Schaar nicht herumkommt: Gerade weil sich die Datenerhebung mit der Digitalisierung exponentiell ausgeweitet hat, kapitulieren auch die zwar mündigen, aber nicht entsprechend ausgebildeten Privatmenschen vor der Wahrnehmung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
Wer froh ist, seinen Rechner überhaupt zum Laufen zu kriegen, schlägt sich nicht mit Verschlüsselungstechniken herum. Der Staat müsse technisch mit den Terroristen mithalten, erklärt Schäuble düster die Notwendigkeit neuer Überwachungsbefugnisse. Im Rüstungswettlauf von Terroristen und Staat ist jedenfalls einer auf der Strecke geblieben: der Bürger.
Peter Schaar: „Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft“. C. Bertelsmann, München 2007, 256 Seiten, 14,95 €