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Archiv-Artikel

Hollywood vor 500 Jahren

Das Buch, das Don Quichotte nachspielen wollte: Joanot Martorells altkatalanischer Ritterroman „Tirant lo Blanc“ erscheint vollständig auf Deutsch

VON TOBIAS SCHWARTZ

Eine der berühmtesten Figuren, die die Weltliteratur hervorgebracht hat, war bekanntlich nicht ganz bei Trost. Don Quichotte, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist ein Freak, ein fanatischer Konsument spezieller Genreliteratur, nämlich spätmittelalterlicher Ritterromane. Vergleichbar ist das heute nur mit Zockern von Computer- oder Rollenspielen, die in eine eskapistische Fantasiewelt abtauchen und diese mit der Realität verwechseln. Dem Genre Ritterroman also ist Don Quichottes Wahnsinn und damit unser Lektürevergnügen zu verdanken. Aber einem besonders: Joanot Martorells Tirant lo Blanc, der nun in einer dreibändigen Schmuckausgabe erstmals vollständig in deutscher Sprache erscheint.

Martorells 1490 in Spanien erschienener Roman ist „das beste Buch der Welt“. So jedenfalls legt es der humanistische Spanier Miguel de Cervantes einem Dorfpfarrer aus seinem Opus magnum in den Mund. Und tatsächlich: Dieser altkatalanische Roman ist ganz großes Kino, Popcornkino, aber der anspruchsvollen Sorte. So etwas wie Hollywood vor 500 Jahren.

Der Vergleich mit dem Kino liegt nahe. Die Lektüre des groß angelegten Epos führt direkt in die Zeit der historischen Türkenkriege, die Zeit der Besetzung Spaniens durch die Mauren: klassische Mantel-und-Degen-Kulisse. Nachdem der Autor den Leser ausführlich in die Regeln des Rittertums eingeführt hat, schickt er ihn gemeinsam mit seinem Helden auf die Reise, auf der dieser etliche Ritterabenteuer zu bestehen hat. Zunächst in England, wo Tirant überwiegend als rüpelhafter Haudegen erscheint, der auf relativ beliebige Weise sein Leben riskiert und es auch mehrmals beinahe zu verlieren droht. Inzwischen zum Ritter gereift, gelangt er nach einem Kurzaufenthalt in Frankreich bald ins belagerte Rhodos. Hier kann er erstmals sein Feldherrengeschick erfolgreich unter Beweis stellen. In Konstantinopel angekommen, rettet Tirant das byzantinische Heer vor einer Niederlage gegen die Türken.

Der Roman, den Martí Joan de Galba nach Martorells Tod mit einem vierten Teil vollendet hat, ist eine atemberaubende Mischung aus Action und Splatter: „Und der letzte Hieb, der ihm verpasst wurde, traf den Kopf derart, dass der zerklumpte Helm ihm den Schädel eindrückte, das Hirn aus den Augen und Ohren quoll und er tot vom Pferd stürzte.“ Aber auch Romantik und Erotik kommen nicht zu kurz. In Konstantinopel bahnt sich neben der ritterlichen Aventüre auf dem Schlachtfeld noch eine Liebesbeziehung zwischen Tirant und der byzantinischen Kaisertochter Carmesina an. Anlass für den 1413 südlich von Valencia geborenen Autor, durch Komik die Autorität des Ritters als Helden zu untergraben und schon Cervantes’ Parodie den Weg zu ebnen. Er lässt seinen Helden nach einem heimlichen Treffen mit der Geliebten einen Sturz aus dem Fenster erleiden, bei dem dieser sich ein Bein bricht.

Unterbrochen sind die humoristischen Minne-Episoden von grotesken Kuppelszenen, die wiederum Shakespeare vorwegzunehmen scheinen. In Sachen Liebe nimmt Martorell wie sein Kollege aus der Elisabethanischen Epoche kein Blatt vor den Mund: „Und wenn er Euch küssen will, solltet Ihr Euch nicht sträuben, selbst dann nicht, wenn er mit der Hand Euch unter die Röcke fährt.“ Eine offizielle Hochzeitsfeier in Konstantinopel kommt schließlich trotz vieler Widerstände zustande. Ein friedliches „und wenn sie nicht gestorben sind …“ allerdings ist dem Paar nicht vergönnt. Auf Trennung folgt Tod.

Martorells Epos ist unermesslich vielschichtig und ein Abenteuerspielplatz für Literaturhistoriker. Die ausführlichen geografischen und historischen Angaben entsprechen der Wirklichkeitsvorstellung zur Zeit des Autors. Das epische Action-Abenteuer knüpft an die spätmittelalterliche Gattung des Ritterromans an, spielt mit traditionellen Themen wie Bewährung in der Aventüre und Minne. Gleichzeitig ist der „Tirant“ ein Schwellenroman, der einen deutlichen Bruch markiert. Martorells Realismus ist unüblich für die Literatur des Spätmittelalters, in der mystische Wunder immer noch hoch im Kurs stehen. Ebenso sein spezieller Humor.

Modern erscheint auch die Montagetechnik des Romans, in dem Texte aus der Bibel, aus Dante und den Artusromanen zitiert sind. Sogar kritische Töne sind zu vernehmen, mitunter recht explizit. Über den König von Frankreich heißt es: „Großmundig verhieß er viel und tat erbärmlich wenig.“ Aber auch wenn Martorell so manche zweifelhaften Verhältnisse seiner Zeit anprangert, für eine gegenwartsbezogene politische Lektüre ist der Text kaum geeignet. Glücklicherweise muss er das auch nicht sein, um ein ebenso fesselndes wie geistreiches Lektüreerlebnis darzustellen.

Joanot Martorell: „Der Roman vom weißen Ritter Tirant lo Blanc“. Aus dem Katalanischen von Fritz Vogelgsang. 3 Bände. Fischer, Frankfurt am Main 2007, 1.656 Seiten, 78 €