: „Sie haben Vertrauen zu mir aufgebaut“
WANDLUNG Alexander Ochen wollte seine erste Stelle an einer Schule antreten, als ihn Rebellen verschleppten. Sie brauchten ihn als Anführer einer Truppe Kindersoldaten in Uganda. Heute ist er der Lehrer dieser Kinder
■ Der Mensch: Alexander Ochen, 44, ist Lehrer. Er unterrichtet Kunst und Handwerk. In seinem Haus hat er eine Galerie eingerichtet. Er malt derzeit eine Bilderserie über den Krieg in Norduganda. Dies hilft ihm, sein Trauma zu überwinden. Im kommenden Jahr will er sie ausstellen.
■ Die Schule: Die Sekundarschule in Gulu war zu Zeiten des Krieges geschlossen. Zu groß war die Angst, dass die LRA daraus ganze Schulklassen entführt. Erst 2006 wurde sie mit Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen wiedereröffnet. Auch neue Klassenräume wurden gebaut.
■ Die Stadt: Gulu ist die größte Provinzstadt in Norduganda. Dank eines groß angelegten Wiederaufbauplans wurde Gulu in den vergangenen Jahren restauriert. Banken und Supermärkte haben neu eröffnet. In Flüchtlingslagern leben immer noch Tausende Menschen.
INTERVIEW SIMONE SCHLINDWEIN UND YANNICK TYLLE (FOTOS)
sonntaz: Herr Ochen, Sie wollten Lehrer werden, aber anstatt Kinder zu unterrichten, kommandierten Sie Kindersoldaten in einem grausamen Krieg. Was ist da passiert?
Alexander Ochen: Das war im Jahr 1996. Ich war damals auf dem Weg zu meiner ersten Stelle als Lehrer. Ich wollte mich von meiner Mutter verabschieden, da ich für die Stelle nach Ost-uganda ziehen musste. Meine Familie lebte in einem Dorf 27 Kilometer von Gulu entfernt. Ich ging zu Fuß, sagte meiner Mutter Lebewohl, und auf dem Weg zurück schnappten mich die Rebellen der LRA.
Der Lord’s Resistance Army, die bei Weitem grausamste Rebellengruppe Afrikas.
Über zehn Jahre habe ich mit ihnen im Busch verbracht. Erst 2006 konnte ich fliehen und mir endlich meinen Lebenstraum erfüllen: Seit einem Jahr bin ich nun Lehrer. Es ist ein Wunder, dass sie mich eingestellt haben! Ich hatte meine Zeugnisse von der Hochschule bei mir, als ich entführt wurde, und habe sie im Busch verloren.
Sie waren ein junger Mann, Ihr Leben lag vor Ihnen.
Ich war 29 Jahre alt. Ich war froh und aufgeregt wegen meiner Einstellung. Doch es war Krieg. Als ich von meinem Dorf loslief, sah ich schon Leichen am Wegrand liegen. Dann kam ich zu einer schmalen Brücke. Mit mir waren noch andere Leute unterwegs. Wir liefen den Rebellen direkt in die Arme. Sie stellten uns am Brückengeländer auf und erschossen einen nach dem anderen. Bevor ich dran war, erhielt einer der Rebellen einen Funkspruch. Sie hörten sofort auf mit dem Töten. Das hat mir das Leben gerettet.
Sie waren Lehrer und militärisch unerfahren. Wie kam es dazu, dass Sie Kinder in einem blutigen Krieg missbraucht haben?
Ich habe das nicht freiwillig getan. Zuerst war ich nur jemand, der mithilfe seines Wissens die Militäroperationen unterstützte. Weil ich einen Erste-Hilfe-Kurs besucht hatte, sagten sie: „Du bist unser Arzt.“ An der Front musste ich Schusswunden nähen. Später musste ich Landkarten zeichnen und strategische Stellen im Gelände ausfindig machen, ich hatte ja Geografie studiert.
Sie waren nützlich.
Ja, und damit ich nicht davonlaufe, wurde ich von 17 Männern bewacht. Ich hatte keine Chance.
Sie wollten nicht, aber stiegen in der LRA bis zum Rang eines Hauptmanns auf.
Meine erste Beförderung erhielt ich, nachdem ich meinem Kommandeur eine Sendung übersetzt hatte, die auf Englisch im Radio ausgestrahlt wurde. Sie sprachen darin über die LRA, er war neugierig, was gesagt wurde, verstand aber kein Englisch. Er gab mir zwei Sterne fürs Revers. Ich wurde Leutnant.
Den Aufstieg in einer grausamen Rebellenarmee stellt man sich anders vor.
Dass Sprachkenntnisse ausreichten, war nicht der übliche Weg. Oft werden Kämpfer nach ihren Taten bemessen. Wie viele Menschen hat man getötet, wie viele Jungen entführt, um sie zu Kämpfern auszubilden, und wie viele Mädchen entführt, um sie sich als Frauen zu halten. Es ist deine Grausamkeit, die dich die Hierarchie emporklettern lässt.
Waren Sie stolz über den Aufstieg?
Nein, denn es bedeutete, dass ich auch Militäroperationen ausführen musste. Ich musste Kinder entführen, um meine Einheit aufzubauen. Letztlich hatte ich knapp hundert Jungen und Mädchen unter mir.
Wie sind Sie als Lehrer mit den Kindern umgegangen? Die LRA ist berüchtigt dafür, dass Mädchen missbraucht werden.
In der LRA gibt es ein grausames System: Die Kommandeure bekommen stets die schönsten entführten Mädchen. Sie behandeln sie eine Weile als Frauen. Wenn dann wieder neue Mädchen entführt werden, dann nehmen sie das Frischfleisch und reichen die älter gewordenen Mädchen an untergebene Offiziere weiter.
Und Sie?
Nachdem ich eine Militäroperation erfolgreich ausgeführt hatte und wieder einen Rang höher gestellt wurde, hat mir der Kommandeur eine Frau geschenkt, wie eine Belohnung. Sie war damals zwölf. Sie hatte furchtbare Angst. Sie stammte ungefähr aus derselben Gegend wie ich. Sie tat mir leid. Ich behandelte sie jahrelang wie meine Schwester. Das Schicksal hat uns zusammengebracht. Ich habe sie von der LRA befreit und zu ihrer Familie zurückgebracht. Alle waren so glücklich. Wir haben dann geheiratet. Heute lebt sie bei mir in meinem Heimatdorf. Wir haben mittlerweile zwei Kinder.
Sie waren nicht freiwillig in der LRA. Haben Sie je versucht zu fliehen?
Ich wollte es, vom ersten Tag an. Ich konnte die Brutalität und das Töten nicht ertragen. Doch ich hatte Angst, ich habe über zehn Jahre gebraucht, bis ich weglaufen konnte.
Weil das Überwachungssystem zu streng war? Ein Kämpfer hat mir verraten, wie man in der LRA überleben kann. Er sagte: Wenn du pinkeln musst, geh nicht weiter als drei Meter, sonst denken sie, du willst davonschleichen. Und dann töten sie dich. Wenn jemand unter meinem Kommando floh, war das furchtbar. Ich hatte einmal ein Mädchen in meiner Gruppe Kindersoldaten. Sie erzählte mir, dass sie das einzige Kind ihrer Eltern sei. Ich befahl ihr eines Nachts wegzulaufen. Jemand verriet mich. Zur Strafe wurde ich 730-mal mit dem Gewehrkolben geschlagen. Sie brachen mir meinen Arm, den ich selbst mit einem Stock bandagieren musste. Er ist bis heute lahm.
Wie ist Ihnen schließlich die Flucht gelungen?
Erst als uns die kongolesische Armee angriff, konnte ich während eines Feuergefechts fliehen. Das war am 19. August 2006. Wir waren da schon im Kongo. Ich nahm sieben Kinder mit. Ich musste wenigstens einige von ihnen retten. Eines davon ertrank in einem Fluss. Er war das jüngste von ihnen. Elf Jahre alt. Am Eingang eines Dorfs stießen wir auf eine Straßensperre. Dort standen Kongolesen. Sie hätten uns am liebsten umgebracht. Ich bettelte um Hilfe, ging auf die Knie. Ich übergab freiwillig unsere Waffen und erklärte, dass wir aus der LRA geflohen seien. Wir durften zur nächsten UNO-Station, die Blauhelme gaben uns Essen.
Eines Tages standen Sie zum ersten Mal als Lehrer vor Ihrer Klasse und nicht als Kommandant vor Ihren Kindersoldaten.
Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen. Dass ich kein normaler Lehrer bin, sieht man mir ja an. Ich habe drei Schusswunden und einen lahmen Arm. Einige meiner Schüler kennen mich aus dem Busch. Sie waren auch von der LRA entführt worden. Als sie mich zum ersten Mal auf dem Schulhof sahen, riefen sie: „Das ist der Rebellen-Mann.“ Sie hatten Angst vor mir. Die Schüler dachten, ich prügele sie, wenn sie nicht still sitzen. Doch mittlerweile merken meine Schüler, dass ich kein Bösewicht bin. Ich unterrichte Kunst und Handwerken. Wir verbringen viel Zeit zusammen. Ich helfe ihnen auch bei anderen Hausaufgaben und Problemen. Sie haben Vertrauen zu mir aufgebaut. Vor allem die ehemaligen Entführten kommen oft zu mir. Sie wissen, dass ich ihr Trauma teile.
Helfen Ihnen die Erfahrungen als Kommandant?
Die Geschichte des Krieges hat gezeigt, dass Gewalt keine Lösung ist. Ich habe das selbst erfahren. Ich bin im Disziplinarkomitee der Lehrerschaft und halte in unserer Schule Diskussionsrunden ab, um Konflikte unter den Schülern zu lösen. Viele sind traumatisiert, viele sind gewaltbereit. Ich versuche ihnen zu erklären, dass Gewalt keine Lösung ist. Viele Jungen und Mädchen kommen nun zu mir, wenn sie Streitigkeiten lösen wollen. Ich setze dann beide Seiten an einen Tisch und vermittele. Sie sollen sich austauschen, verstehen und versöhnen. Das klappt sehr oft.
Haben Sie die Kinder, die Sie befohlen haben, um Vergebung gebeten?
Ich habe einst einen Jungen getroffen, der unter meinem Kommando entführt wurde. Ich traf ihn auf dem Markt. Er war dort mit seiner Mutter und sagte: „Mama, guck mal, da ist der Mann, der die Leute in unserem Dorf umbringen ließ!“ Ich war geschockt und rannte davon. Später ging ich in das Dorf und suchte nach der Familie. Ich flehte die Mutter und ihren Sohn auf Knien an, mir zu vergeben. Ich bot ihr an, sie solle mich töten, falls sie sich dadurch besser fühlen würde.
Wie reagierten die Eltern des Jungen?
Sie weinten und vergaben mir. Sie gaben mir zwei Hühner als Geschenk. Ich wurde zu einem Familienmitglied. Ich besuche sie oft und bringe dann auch Zucker mit.
Sie haben in Ihrer Kirchengemeinde eine Initiative gestartet, um anderen LRA-Kommandeure den Weg zur Vergebung zu erleichtern.
Wir ehemaligen LRA-Rebellen kommen mit leeren Händen in unsere Dörfer zurück. Wir haben oft nichts als das, was wir am Leib tragen. Einige haben nicht einmal das. Viele wünschen sich, dass sie getötet worden wären, anstatt dieses jämmerliche Leben zu führen.
Sie wollen ihnen helfen.Ich habe Geld gesammelt. Wir haben Wasser gestaut und wollen eine Fischfarm errichten, damit die Männer Geld verdienen können. Ich möchte ihnen helfen. Aber viel lieber arbeite ich mit Kindern. Ich hatte Glück. Ich sah in der Zeitung vor einem Jahr eine Anzeige, dass Lehrer gesucht werden. Ich bewarb mich und bekam die Stelle. Seitdem bin ich wohl der glücklichste ehemalige Rebellenführer.
■ Simone Schlindwein, 31, lebt in Uganda und ist taz-Korrespondentin in der Region der Großen Seen
■ Yannick Tylle, 25, studierte Geografie und lebt und arbeitet als freier Fotojournalist in Ostafrika