: Eine waghalsige Klettertour
IDEENGESCHICHTE Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, und seine phänomenale Studie „Das Recht der Freiheit“
VON RUDOLF WALTHER
Freiheit und Autonomie sind Begriffe, die seit dem Zeitalter der Aufklärung den Aufstieg der Moderne prägen. Rechts- und Moralverständnis wurden im Zuge dieser Entwicklung ebenso auf individuelle Freiheit ausgerichtet wie die kapitalistische Marktwirtschaft und die politischen Systeme der konstitutionellen Monarchie oder der liberalen Demokratie. An der Bandbreite der Verwendung des Begriffs Freiheit wird ablesbar, dass es sich dabei um eine ebenso vage wie komplexe Vorstellung handelt. Sie spielt in den Dimensionen von Recht, Moral, Wirtschaft und Politik eine zentrale Rolle und verschmilzt mit dem Begriff Gerechtigkeit und den Vorstellungen einer gerechten Ordnung.
Axel Honneth, der Frankfurter Philosoph und Direktor des Instituts für Sozialforschung, klärt in seiner über 600 Seiten starken Studie mit dem Titel „Das Recht der Freiheit“ die Konturen und Facetten des schwierigen Begriffs auf vorbildliche Weise.
Honneth unterscheidet zunächst drei Modelle von Freiheit: die negative, die reflexive und die soziale Freiheit. Negativ heißt jene Freiheit, die aus Abwesenheit von Zwängen und Gesetzen resultiert. Mit anderen Worten: Nach dieser Minimalbestimmung herrscht Freiheit jenseits von Gesetzen und anderen Schranken. Die einzige Grenze für egozentriertes Handeln sind demnach Gesetze. Reflexive Freiheit dagegen stellt sich dort ein, wo sich ein Subjekt fragt, welchen Gesetzen es folgt und woher diese stammen. Für Kant besteht die höchste Form von Freiheit und Autonomie darin, nach eigenen Gesetzen zu handeln, und zwar solchen, die vernünftig begründet und deshalb verallgemeinerungsfähig sind, weil ihnen alle zustimmen können. Freiheit ist also das Resultat einer reflexiven Leistung.
Soziale Freiheit schließlich bemisst sich nach Hegel nicht daran, dass sich ein Ich selbst vernünftige Gesetze gibt, die alle akzeptieren können, sondern in der sozialen Praxis, d. h. in der Kommunikation und Kooperation von mindestens zwei Personen, die sich selbst im jeweils Andern finden und gegenseitig anerkennen. Dieser Prozess der Anerkennung ist gebunden an „die Existenz normierter Verhaltenspraktiken“ oder „Institutionen“: „Frei ist das Subjekt letztlich allein dann, wenn es im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung verbindet“ (Honneth).
In einem nächsten Schritt analysiert Honneth diese institutionellen Praktiken in den Dimensionen von Recht und Moral. Für beide Gebiete untersucht der Autor die Chancen und Schranken von Freiheit. Die Schranken rechtlicher Freiheit etwa sind beträchtlich. Denn jede rechtliche Normierung stößt auf Grenzen. Rechtsnormen schaffen „monologisch nutzbare Bezirke“, Diskurse unter Ebenbürtigen dagegen Anerkennung, Solidarität und Kooperation. Honneth spricht von „Pathologien rechtlicher Freiheit“ in den Fällen, in denen sich Subjekte auf ihre Rechtspositionen so versteifen, dass sie jede andere Kommunikation abbrechen und in regressives Sozialverhalten verfallen. Das Mittel – die Rechtsnorm – verselbständigt sich zum Selbstzweck und wird dadurch destruktiv und selbstdestruktiv in seiner Rigidität. Individuen verwandeln sich „in pure Charaktermasken des Rechts“.
Enorme Leistung
Auf ähnliche Schranken stößt die moralische Freiheit, die Freiheit, nach seinen Überzeugungen zu handeln, ohne bestraft oder diskriminiert zu werden. Wird sie verabsolutiert, führt sie in eine gnadenlose Pflichtethik („Befehl ist Befehl“, „Gehorsam um jeden Preis“) oder in schrankenlose Willkür von religiösen Fanatikern oder politischen Terroristen. Beide sind bereit – im vermeintlichen Besitz der „richtigen“ und „höheren“ Moral –, jemanden zu töten. Statt in wechselseitiger moralischer Achtung ihr Handeln mit rationalen Gründen zu rechtfertigen, brechen sie die Kommunikation ab und setzen auf stumme Gewalt.
Die Realisierungschancen von sozialer Freiheit jenseits der Schranken von rechtlicher und moralischer Freiheit lassen sich nicht abstrakt definieren, sondern nur historisch rekonstruieren, denn sie ändern sich ständig. Wie stark, lässt sich an der Stellung von Frauen und Kindern in der Familie im Laufe der letzten 200 Jahren ablesen. Erst die moderne Frauenbewegung erkämpfte in den letzten Jahrzehnten wenigstens in sozial privilegierten Schichten reale Chancen der Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung. Rechtliche Normen können solche Emanzipationsprozesse fördern, entscheidend für den Erfolg sind jedoch für Honneth auf allen Ebenen der Verwirklichung sozialer Freiheit die sozialen Kämpfe und Konflikte.
Was die Realisierungschancen von sozialer Freiheit bei marktwirtschaftlichem Handeln und in der demokratischen Willensbildung betrifft, so gibt sich Honneth keinerlei Illusionen hin. Marktbeziehungen versprechen zwar egalitären Tausch von Gütern, Arbeitskraft gegen Geld, aber systembedingte Asymmetrien werden nicht beseitigt. Im Gegenteil, unter der Vorherrschaft des Neoliberalismus dominieren heute „de-sozialisierte Vorstellungen des Marktes“. Auch „die demokratische Willensbildung“ ist weniger von einer Zunahme sozialer Freiheit geprägt als von Entpolitisierung und Auszehrung der Parteien.
Will man Honneths enormer Leistung gerecht werden, muss man sie vergleichen mit einer schwierigen Klettertour quer durch die Alpen. Gleich zu Beginn verabschiedet Honneth alle bewährten Bergführer von Kant über Rawls bis zu Habermas und wählt seine eigene Route – mit Hegels „Rechtsphilosophie“ als Notration im Rucksack. Honneth versteigt sich gelegentlich in steilen Felswänden und macht Umwege, aber er stürzt nie ab und erreicht die Gipfel, von denen herab er das Publikum daran erinnert, dass Freiheit und „demokratische Sittlichkeit“ mehr meinen als Markt, Talkshow und Westerwelle.
■ Axel Honneth: „Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 628 Seiten, 34,90 Euro