: Schwestern tanzen
Tanz ist unter Umständen ein Abgrund. Das hat unser Autor bei den Proben zu Sommer Ulricksons Stück „Yes yes to Moscow“ erfahren. Geahnt hatte er es aber schon seit dem schnellen Ende einer Beziehung zu einer Tänzerin
VON JOCHEN SCHMIDT
Hätte ich rechtzeitig ein Pseudonym angenommen, würde ich nicht immer wieder Belegexemplare mit Artikeln eines anderen Jochen Schmidt zugeschickt bekommen, der als graue Eminenz der Tanzkritik für die FAZ arbeitet. Wenn bei meinen Lesungen Bücher von ihm am Büchertisch angeboten werden, sollte ich mich dann weigern, Titel wie „Tanzen gegen die Angst“ zu signieren? Dabei war meine Beziehung zum Tanz immer höflich-distanziert: Ich fragte lieber nicht nach, warum die Ballerinen große Halskrausen als Röcke trugen, die Tänzer Strumpfhosen, und warum ihre Fußspitzen beim Gehen nach außen zeigten.
Was mich so lange nicht berührt hatte, wurde aber zur quälenden Obsession, als eine Beziehung zu einer Tänzerin sich zu schnell zerschlug und ich mich auf der Straße von den vielen Ankündigungen für Tanzereignisse verfolgt fühlte, die mich an mein Unglück erinnerten. Ich bildete mir auch plötzlich ein, Tänzerinnen in der Masse zu erkennen; oft waren es etwas reifere Frauen, die aus Stolz über ihre hart erarbeitete Figur auch im Winter Hackenschuhe und wadenfreie Leggings trugen.
Vor zwei Jahren bot mir dann die aus Kalifornien stammende und in Deutschland arbeitende Choreografin Sommer Ulrickson an, mit ihr ein Stück zum Thema „Glück“ zu entwickeln.
Sie arbeite gerne mit Schauspielern, die eine Persönlichkeit mitbringen, während Tanzprofis versucht seien, alles geometrisch aufzulösen, sagte sie. Während der Probenwochen wurden alle Schauspieler krank, und ich immer vorsichtiger, weil man nie wusste, wie es diese sensiblen Wesen aufnehmen würden, wenn man ihnen sagte, dass sie den Text doch vielleicht lieber ohne jede Betonung sprechen sollten, weil das am besten klang. Es war eine Herausforderung für mich, meine eigenen Texte Dutzende Male anzuhören, ich konnte verstehen, warum Beckett sich mit den Jahren immer kürzer gefasst hatte, welcher Text hält 40 Wiederholungen aus?
Die kleinen Geheimnisse
Beglückend waren deshalb die offenen Momente, wenn an einer Stelle die Bühne dunkel und die Schauspieler mit einem Gast überrascht wurden, mal ein Cellospieler, mal ein Stripper, einmal auch ich mit einem Text. Oder Improvisationsszenen, ein Gespräch, in dem das Wort „Drogen“ durch „Glück“ ersetzt wurde und Sätze fielen wie: „Ich mach immer die Rollläden runter, wenn ich glücklich bin“ – „Ich hab schon mal gekotzt vor Glück“ – „Gefährlich wird es, wenn du dir einbildest, Glück wäre eine Lösung für deine Probleme.“
Jeder Beruf ist ein Mikrokosmos, ich freute mich über die kleinen Geheimnisse, die man lernte, wenn man einmal am Theater mitproduzierte. Dass man auf der Generalprobe nicht klatschen durfte, weil das Unglück brachte, und dass man als Schauspieler aus dem gleichen Grund vor der Premiere sein Kostüm nicht wäscht. Und wenn im Script „fade“ stand, war das ein Hinweis an den Beleuchter und keine Selbstkritik.
Sommer Ulricksons Vater ist ein Pfarrer mit Showtalent, sie habe sich die Talente mit ihrer Schwester aufgeteilt, die Theologie studiert, glaubt Sommer. Die Themen ihrer Arbeiten machen einem Angst, es geht bei ihr immer ums Ganze. Aber ihre Stücke über Eifersucht in einer Dreiecksbeziehung oder das „Jerusalem-Syndrom“, eine krankhafte Identifizierung mit biblischen Figuren, die Besucher dieser Stadt befällt, haben auch immer ein komisches Potenzial, das sie auszukosten versteht.
Seit ein paar Wochen hat Sommer Ulrickson im Mime Centrum an der Schönhauser Allee für ein neues Stück geprobt, wieder waren alle erkältet. Aus Tschechows „Drei Schwestern“ wurde ein Stück über drei Frauen, die in Moskau angekommen sind, sich aber noch in einem weißen Raum in einer Art Warteschleife befinden, wo sie von einem anonymen Beobachter mit Momenten ihres eigenen Stücks konfrontiert werden.
Die Sehnsucht läuft ins Leere, wenn sie sich erfüllt hat, dem Schock der Begegnung mit den eigenen Träumen werden die Schwestern vielleicht nicht standhalten. Tanz ist hier nichts Harmonisches, sondern unter Umständen ein Abgrund, in den der Mensch zu stürzen droht. Material können „Copying-Mechanismen“ sein, Zwangshandlungen, Selbstverletzungen, Bewegungsfloskeln aus dem Alltag, Gesten, wie das Zucken der Augenbrauen, mit denen Mann und Frau in zu lauten Räumen Kontakt zueinander herstellen.
Als Regisseur versagt
Die teils deutschen, teils US-amerikanischen (Mark Jackson, Tilla Kratochwil, Beth Wilmurt und Sommer Ulrickson) Schauspieler waren so gut, dass ich als Regisseur völlig versagt hätte, weil mir im Prinzip alles gefiel, was sie machten. Ich weiß ja inzwischen, dass Lob schaden kann, weil der Regisseur vielleicht die Strategie verfolgt, Spannung aufzubauen. Am liebsten kam ich und sah mir die Fortschritte an, bei der quälenden Suche nach dem perfekten Moment, wobei mir schon das Vokabular fehlt, um die Qualität einer Szene zu beschreiben, es wird ja nichts erzählt. Manchmal sah ich eine Stunde lang zwei Frauen dabei zu, wie sie übten, ihre Arme auf möglichst überzeugende Art zu verknoten, es wurde immer besser, aber ich war unfähig zu sagen, warum.
Als Regisseur würde ich meine Arbeit darin sehen, die Schauspieler einzusperren und sie, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, rauszulassen, wie ein Wärter die Tiger.
Wir, Sommer Ulrickson und ich, werden wieder zusammenarbeiten, sie ist interessiert an meiner Komik, und ich beneide sie um ihre Konsequenz. Weil es vollkommen absurd scheint, habe ich ihr vorgeschlagen, Adornos „Minima Moralia“ zu choreografieren, ich fürchte, wir werden es tun. Einmal hat sie mir von einer amerikanischen Alzheimer-Klinik erzählt, die ein Labyrinth gebaut habe, in dem sich die Patienten, die notorisch fliehen wollen, immer unterwegs fühlen können, ohne verloren zu gehen. Wenn Theater eine Heimat sein kann, dann hätte es diese Funktion.
„Yes yes to Moscow“, frei nach Anton Tschechows „Drei Schwestern“. Regie/Choreografie: Mark Jackson & Sommer Ulrickson. Premiere in der BOX und BAR des Deutschen Theaters am 11. Oktober um 20.30 Uhr. Weitere Termine: 12. und 13. Oktober, jeweils 20.30 Uhr