Im Land der Hungerlöhne

Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di hat eine „schwarze Liste“ mit Unternehmen vorgelegt, die weniger als sechs Euro Stundenlohn zahlen. Dumping dürfe kein Geschäftsmodell sein, sagt der niedersächsische Ver.di-Chef Sauer

Anders als die Deutsche Post wollen deren Konkurrenten den mit der Gewerkschaft Ver.di ausgehandelten Mindestlohn für Zusteller nicht akzeptieren. Von einer branchenweiten Einigung könne keine Rede sein, erklärte das Aktionsforum „Mehr Farbe im Postmarkt“, in dem neue Anbieter vertreten sind, im vergangenen Monat. Es gebe auch „massive rechtliche Bedenken“, sagte ein Sprecher des Dachverbandes. Das Aktionsforum kündigte an, seinen Mitgliedsverbänden und -unternehmen zu empfehlen, diese sollten sich mit allen Rechtsmitteln wehren. Auch die schärfsten Post-Konkurrenten Pin Group und TNT Post kündigten Widerstand an. Inzwischen haben die privaten Anbieter sogar eine eigene Gewerkschaft gegründet. taz

VON KAI SCHÖNEBERG

Es waren am Rathaus befestigte Halseisen oder Holzpfähle und Schandstühle auf Marktplätzen, auf der Verurteilte im Mittelalter ihre Strafe in Form von Schmähung durch Passanten erlitten. In den USA veröffentlichen heute Behörden Fotos von Sexualstraftätern im Internet. Zu einer weiteren, modernen Form des Prangers greift nun die Gewerkschaft Ver.di: dem Folterinstrument der „Schwarzen Liste“. In Form einer solchen nämlich veröffentlichte Ver.di gestern erstmals Firmen, die weniger als sechs Euro Stundenlohn an ihre Mitarbeiter zahlen.

Lohndumping dürfe „kein Geschäftsmodell sein“, sagte Siegfried Sauer, der Vorsitzende des Ver.di-Landesbezirks Niedersachsen-Bremen, in Hannover. „Hungerlöhne“ seien ein „Verstoß gegen die Menschenwürde“ und „schlichtweg Ausbeutung“. Die Gewerkschaft fordert einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Sauer erklärte, er erwarte, dass die in der Liste genannten Firmen sich in Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft begeben. Oft gebe es in den Dumping-Firmen aber bereits Schwierigkeiten, einen Betriebsrat zu gründen.

Besonders die Mitarbeiter des von deutschen Zeitungsverlagen getragenen Postdienstleisters Pin Group erhalten Ver.di zufolge Löhne, die nicht ihre Existenz sichern können. Laut der „Schwarzen Liste“ erhält ein Briefzusteller der zu Pin gehörenden Brief Aktiv KG aus dem niedersächsischen Garbsen eine pauschale Arbeitsvergütung von 800 Euro Brutto im Monat. Gearbeitet werden müsse „nach täglichem Sendungsaufkommen“: Das bedeute einen Stundenlohn von rund fünf Euro brutto. Ausgleich für Überstunden erhalten die Zusteller demnach nur, wenn diese auch angeordnet worden sind.

Und ein Bote des Zustellers Jurex bekomme für eine 40-Stunden-Woche einen monatlichen Festlohn von 500 Euro plus bis zu 80 Cent pro zugestelltem Brief. Nach Ver.di-Angaben kommt der Zusteller damit auf vier bis fünf Euro pro Stunde. Eine Sprechern der Pin Group erklärte gestern auf taz-Anfrage, man halte an den genannten Zustellfirmen „keine Beteiligungen“. Die Gewerkschaft aber bleibt bei ihrer Darstellung: „Sie sind nicht beteiligt, sie haben die Unternehmen ja vollständig gekauft“, sagte ein Sprecher. Ver.di-Chef Sauer kritisierte weiter, dass inzwischen auch Kommunen, Gerichte, Finanzämter oder öffentliche Unternehmen ihre Post mit Pin-Töchtern zustellen ließen. Nach eigenen Angaben ist Pin mit 9.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von im vergangenen Jahr 168 Millionen Euro nach der Deutschen Post der größte private Briefdienstleister in Deutschland.

Auf der „Schwarzen Liste“ der Gewerkschaft erscheint auch der Textil-Discounter Kik, der vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen Filialen betreibt. Hier verdient eine Packerin laut Ver.di 4,60 Euro pro Stunde. Die Firma selbst betonte in einer Mitteilung, dass „unsere Aushilfslöhne Nettolöhne sind“. Den Vorwurf, Kik würde seinen Mitarbeitern „zum Teil weniger als die Hälfte des Tariflohns zahlen, weisen wir daher entschieden zurück“.

Auch in der Callcenter-Branche herrschen Ver.di zufolge Wildwest-Manieren. Bei einer Call-Center-Firma mit Filialen in Aurich, Oldenburg, Bremen und Delmenhorst komme ein Mitarbeiter so auf einen Stundenlohn von 4,76 Euro, unentgeltliche Arbeit werde an mindestens einem Samstag pro Monat erwartet.

Auch aufgeführt ist die Fluggesellschaft Ryanair, die von Bremen aus startet: Wie berichtet, müssen Flugbegleiterinnen – Bruttoverdienst: 1.165 Euro monatlich – laut Ver.di eine fünfwöchige Mitarbeiterschulung selber zahlen. Die Kosten lägen bei rund 2.000 Euro, ein Gehalt gebe es währenddessen nicht.

Ver.di will die Vorwürfe gegen acht Firmen beweisen können. Der Gewerkschaft lägen Arbeitsverträge oder Gerichtsakten vor, die zeigen, dass „Armutslöhne“ gezahlt werden. In Zukunft sollen weitere Namen von Unternehmen veröffentlicht werden.

Dass die Liste gestern vorgelegt wurde, ist kein Zufall: Sauer forderte den niedersächsischen Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) dazu auf, heute im Bundesrat einer Initiative zur Einführung von Mindestlöhnen für Briefzusteller zuzustimmen, die von Berlin, Rheinland-Pfalz und Bremen unterstützt wird. Niedersachsen will sich in der Länderkammer bei der Abstimmung der Stimme enthalten – wegen unterschiedlicher Positionen der Koalitionsparteien CDU und FDP.

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