: Norddeutsche Grass-Landschaften
Zum 80. Geburtstag des Großschriftstellers: Ein Spaziergang durch die norddeutschen Grass-Orte in Lübeck, Bremen – und auch Göttingen, wo der Butt singt und lacht. Ob der dort ansässige Grass-Verlag Steidl ein Grass-Haus plant, war in „Steidlville“ allerdings nicht zu erfahren
von HANNES LEUSCHNER
„Ich freue mich, ich freue mich für mich und für die deutsche Literatur“ – so Günter Grass, nachdem er 1999 in Stockholm den Nobelpreis verliehen bekam. Später notierte er: „Es ist gut, dass ich erst jetzt, altersgewitzt, den Preis bekomme; als Vierzig- oder Fünfzigjähriger wäre er mir zur Last geworden.“
Ob dieses Selbstbewusstseins nahe der Vermessenheit scheint es manchmal, als strebe Grass nach einem Plätzchen im Olymp neben dem ebenfalls schreibenden und malenden Goethe. Heute wird der große Blechtrommler, die Pfeife nach wie vor in Hand oder Mundwinkel, 80 Jahre alt.
Trotz aller um ihn geführten Kontroversen, jüngst etwa betreffs Mitgliedschaft in der Waffen-SS, wird herzlich gefeiert. So herzlich, dass einem der Gedanke beschleichen mag: Man feiert in Grass auch eine Idee von Deutschland, kantig und nicht ganz unschuldig zwar, aber vor allem: produktiv und ungebrochen. Besonders gefeiert wird im Norddeutschen, wo man eine Art Grass-Achse ausmachen kann, die das Günter-Grass-Haus in Lübeck, das Günter Grass-Medienarchiv in Bremen und den Göttinger Steidl-Verlag verbindet, der 1993 die Weltrechte am Grass’schen Gesamtwerk erwarb.
In Lübecks giebelverspielter Altstadt, in der Glockengießer-Straße, unterhält Grass seit 1995 sein Sekretariat. Seit fünf Jahren sind dem Sekretariat Ausstellungsräume angeschlossen, die von der Kulturstiftung der Stadt Lübeck betrieben werden: Anliegen des Hauses ist die Erforschung und Präsentation von Doppelbegabung, wie sie in der Durchdringung schriftstellerischen und graphischen Arbeitens bei Günter Grass zu Tage tritt. Auch zu Johann Wolfgang Goethe und Hermann Hesse wurden Sonderausstellungen ausgerichtet.
Wenn Jörg-Philipp Thomsa, wissenschaftlicher Volontär im Günter Grass-Haus, von einer besonderen Aura des Hauses spricht, merkt man schon eine Tendenz, von Günter Grass als von IHM in Großbuchstaben zu sprechen: IHN nämlich kann der Besucher mit etwas Glück über eine große Butt-Skulptur hinweg hinter einem Fenster erblicken, wo ER pfeifeschmauchend seiner Sekretärin das neuste Werk für die Computerfassung diktiert. Ein Tempel aber, stellt Thomsa klar, will das Haus nicht sein. Betrachtet man dann die Bilder, auf denen Grass sich im Zwiegespräch mit Kröte, Butt und dreibrüstigen Frauen verewigte, denkt man auch weniger an einen Priester als an einen heidnischen Schamanen, wozu auch die Trommel des Oskar Matzerath passen würde, auf der er das Vergessene zurückzutrommeln versucht: Die kann man übrigens, neben etwas kostspieligeren Bronzen und Graphiken des Meisters, als Nachbildung für 12 Euro im Museumsshop erwerben.
Einen anderen Fokus hat das „Medienarchiv Günter-Grass-Stiftung Bremen“, ehemals schlicht Günter-Grass-Stiftung, was zu einigen Mißverständnissen führte, wie Donate Fink, die Geschäftsführerin erzählt: Man dachte an eine weitere Initiative des Schriftstellers, der Stiftungen beispielsweise zugunsten des Roma-Volkes und bildender Künstler aus Polen ins Leben rief. Es geht jedoch um den „Medien-Grass“, so der Titel eines Kolloquiums, dass die Stiftung kürzlich zusammen mit der Jacobs University veranstaltete.
Radio Bremen gelte seit den fünfziger Jahren als der Haussender des Schriftstellers, und über die Jahrzehnte sammelte sich umfangreiches Material von seinen Auftritten in Hörfunk und Fernsehen. Das Initialanliegen der Stiftung war, den Bestand in Bremen zu behalten. Ziel ist es nun, die gesamte audiovisuelle Berichtserstattung über den stets sehr medienpräsenten Autoren-Star zusammenzutragen und in einer Datenbank zur Verfügung zu stellen: Zunächst will man den deutschsprachigen Raum erschließen, später auch die ausländische Medien hinzuziehen.
Das Archiv selbst hat seine Räume in der Jacobs University im Vorort Grohn, am Ende von einem der noch immer laut hallenden und recht streng anmutenden ehemaligen Kasernenflure. Hier arbeitet die Medienarchivarin Sonja Wohllaib zusammen mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern an der Zusammentragung und Erschließung des Materials. Gefragt, ob man sich als Archivarin angesichts der nicht endenden Berichtserstattung nicht manchmal wie in einer der ausufernden Geschichten des argentinischen Phantasten Borges vorkomme, erwidert sie, zumindest ein tiefes Verständnis für den Mythos von Sisyphos entwickelt zu haben. Vor allem wünsche sie Herrn Grass, nicht zuletzt aus Egoismus, ein langes Leben: nach dessen einsttägigen Verscheiden nämlich ginge es mit der Materialflut erst richtig los. Freilich freut man sich auch über eintreffende Schätze: So schickte der Grass-Kenner Martin Kämpchen vom indischen Goethe-Institut kürzlich eine Kiste mit gesammelten Material zu Grass’ Indien-Reise, aus der damals das sehr umstrittene Kalkutta-Buch „Zunge Zeigen“ hervorging.
Günter Grass, der in der Nähe von Lübeck wohnende kaschubische Weltbürger, ist mit Bremen über seine allgemeine Vorliebe für norddeutsche Hansestädte hinaus eigentlich nur durch einen Eklat verbunden: 1959 erkannte man ihm den Literaturpreis der Stadt für „Die Blechtrommel“ erst zu und dann doch wieder ab: Das Erstlingswerk war dem Bremer Bürgertum schlicht zu pornografisch, und der damals noch für die Vergabe des Preises zuständige Senat duckte aus Rücksichtsnahme auf Wählerstimmen.
In Göttingen hat Grass, nach langen Querelen um Autorenrechte etwa mit dem Luchterhand-Verlag, schließlich beim Steidl-Verlag eine ihm genehme Heimstatt für seine Werke gefunden. An die Ladenscheibe des Döner-Imbiss “Imperator“, gleich neben dem Verlagsgebäude in der hübschen Altstadt gelegen, hat sich schon manche Göttinger Nase gedrückt, wenn Autor und Verleger beim feierabendlichen Raki beisammen saßen.
In „Steidlville“, wie der Verlag seinen Standort gerne nennt, wird am Donnerstag Abend die mit voraussichtlich 2.500 Teilnehmern wohl größte der diversen Feierlichkeiten zu Grass’ 80. stattfinden. Zur Sause in der alten Lockhalle, veranstaltet vom Steidl-Verlag, der Stadt Göttingen und dem NDR, werden als „Freunde und Weggefährten“ unter anderem die Schriftsteller John Irving, der Musiker Marius Müller-Westernhagen und der Schauspieler David Bennent, der in der Schlöndorff-Verfilmung von „Die Blechtrommel“ den Oskar spielte, erwartet.
Das eigentliche Geburtstagsgeschenk wird’s aber wohl erst nachträglich g eben: Der Steidl-Verlag hat unweit des eigenen Hauses in der Düsteren Straße eine Immobilie erworben; eines der ältesten Handwerkerhäuser Göttingens dessen Kernbau auf etwa 1310 datiert. Man hat betreffs nötiger Sanierung schon Kontakt aufgenommen mit einem Architektur-Büro, und gerüchteweise soll auch in Göttingen eine der Lübecker oder Bremer vergleichbare Grass-Stätte entstehen: Ein Museum? Ein Archiv? Ein Literaturhaus? Stadt und Verlag hüllen sich in Schweigen: „Es wird etwas entstehen“, gibt man zu. Aber was, das mag der Butt wissen. Davon wird noch nichts verraten.