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Archiv-Artikel

Derwisch oder Gummiball?

Überall Knochen, Totenschädel und Hundemänner: Der Antwerpener Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui packt sehr viel in seine Stücke. Sie sind emotional, erzählerisch und virtuos. Im HAU zeigt seine Compagnie „Myth“. Ein Porträt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ob es der Bart ist, die Schirmmütze oder seine Herkunft aus der Hafenstadt Antwerpen: Sidi Larbi Cherkaoui sieht ein wenig so aus, wie ich mir einen Seemann vorstelle. Vielleicht liegt das auch daran, dass die mittelalterliche Musik, die der dreißigjährige Choreograf in vielen seiner Stücke von kleinen Ensembles auf der Bühne aufführen lässt, sich oft rund um das Mittelmeer zu bewegen scheint. Dreizehn Inszenierungen sind in sieben Jahren entstanden, einige über 100-mal aufgeführt.

Erfolg kann manchmal sehr anstrengend sein und Verantwortung auch. „Wenn ich meine Tänzer zusammenhalten will“, sagt er, „dann brauche ich Geld, und für das Geld müssen wir touren.“ Und „seine“ Tänzer will er zusammenhalten. Sie sind seine Familie und Voraussetzung dessen, was als seine choreografische Handschrift gilt. „Von ihnen lerne ich und sie lernen voneinander.“

Gleich zwei seiner Stücke zeigt das HAU im Oktober. Zuerst kam er noch einmal zusammen mit dem britischen Choreografen Akram Khan und ihrem Duo „Zero Degree“, und diese Woche nimmt seine Compagnie mit dem neuen Stück „Myth“ am Festival No Limits teil. „Myth“ ist ein sehr abenteuerliches Werk, voller erzählerischer Überraschungen. Es spielt in einer Bibliothek, in deren Regalen überall Knochen und Totenschädel zwischen den Bücher liegen. Da winden sich die Tänzer wie Reptilien über den Boden oder bewegen sich wie Hunde. In einer der liebevollen Szenen, an denen das Stück reich ist, fassen drei der Hundemänner den Körper einer Tänzerin, die zuvor zusammengesunken ist, mit ihren Lippen an den Gelenken von Hand, Ellbogen, Hüfte oder Knie und lassen sie wie eine Marionette tanzen.

Warum tauchen so viele Tiere auf? Weil er das Tier im Menschen zum Vorschein bringen will, sagt er, um es zu akzeptieren und zu integrieren, die animalische Seite. „Wir sind zu hirnzentriert“, sagt er, „zu sehr im Glauben an den Verstand erzogen. Aber Wissen steckt in jeder Zelle, und mit dem Verstand allein, ohne Körper, kann man nichts erreichen, nichts begreifen.“ Zur Demonstration starrt er den Zucker an, der sich trotzdem nicht auf ihn zubewegen will.

In „Myth“, erzählt er, stehen alle Figuren für Konflikte, die ein Mensch auf der Suche nach seiner Identität in seinem Inneren austrägt. „Das ist wie ein Blick in meinen Kopf, wo die Dinge noch kämpfen und nicht entschieden sind.“ So sieht man zum Beispiel die Figur eines Mädchens, gekleidet wie eine Infantin in einem gigantischen Rock, die in einer Szene auf die Knie sinkt und beten möchte. Das ist einem schon nicht geheuer, die plötzliche Suche nach Trost in der Religion. Aber dass dann eine zweite Frau, die in kurzem Rock und Stiefeln so etwas wie die intellektuelle Bibliothekarin verkörpert, sie dabei zu schubsen und an den Haaren zu zerren beginnt, ist als Reaktion auch nicht recht.

Was der Mensch im Glauben sucht und wie der ihn beeinflussen kann, hat Sidi Larbi Cherkaoui schon in früheren Stücken beschäftigt. „Ich bin mit zwei Religionen aufgewachsen, dem Islam und dem Katholizismus“, erzählt der Sohn einer flämischen Mutter und eines arabischen Vaters, „und das gab mir früh das Privileg zu wissen, dass es sehr wohl verschiedene Perspektiven, aber keine Wahrheit gibt.“ Wichtig ist ihm die Gleichwertigkeit aller Elemente und die Verbundenheit zwischen allem, was da ist. „Ob ich atme oder Tee trinke, die Luft und das Wasser, das durch mich hindurchgeht, das ist schon eine intime Kommunikation mit der Welt“, sagt er.

In „Foi“, einer Choreografie von 2003, war es ihm auch um die negative Prägung des Menschen durch die Religionen zu tun. Das Warten auf einen Erlöser, sei die Krise nun ökonomischer oder sozialer Art. Da- von erzählt er in seinem neuen Stück „Myth“. „Dabei kann ein Erlöser nicht mehr tun als die, die auf ihn warten. Es nützt nichts, auf ihn zu warten. Aber selbst Verantwortung zu übernehmen, lernt man so nicht“, meint er.

Es passiert nicht oft, dass ein Gespräch über Tanz so leicht ins Weltanschauliche hinüberweht, wie mit Sidi Larbi Cherkaoui. Dabei wirken seine Stücke vor allem sehr sinnlich und sehr bewegt. Viele der Bewegungssequenzen setzen sehr dicht am Boden an, den die Tänzer hier mit allen Gliedern und nicht nur mit den Füßen berühren. Sie drehen sich nicht nur aufrecht stehend um die vertikale Achse, sondern rollen und kreiseln über unendlich viele Drehpunkte: auf dem Ellbogen, der Schulter, Knie, Hüfte, Kopf. Das sieht sehr akrobatisch und mitunter gefährlich aus, und man folgt dem nicht zuletzt, weil man von der Virtuosität gebannt ist. Die Ebene der inhaltlichen Zeichen, mit denen „Myth“ auch wieder voll gepackt ist, rückt dabei in den Hintergrund. Alles, was auf der Bühne passiert, ist zwar mit Sinn belegbar, aber vor allem, man ahnt es schon; wie es passiert, hält einen in Bann.

Ein kleines Stück noch begleite ich Sidi Larbi Cherkaoui nach unserem Gespräch auf dem Weg von seinem Hotel ins Hebbel Theater. Wie er da ob einer Erkältung mit Schirmmütze, Schal und dick in eine Jacke verpackt neben mir geht und ein wenig über Erschöpfung klagt, kommt es mir ganz unwahrscheinlich vor, dass dieser schmale und blasse Mann abends wieder auf der Bühne stehen wird. Aber da steht er dann nicht nur, sondern hüpft wie ein Gummiball, dreht sich wie ein Derwisch und legt sich am Ende seinen viel kräftigeren Kollegen Akram Khan über die Schulter und trägt ihn hinaus, als wäre nichts gewesen. Einfach unglaublich.

„Myth“ läuft 18./19./20. Oktober im HAU 1, 19.30 Uhr. www.no-limits-festival.de